Deutsche Literatur:Ein Straßenschild für Quiddjes Tanz

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Richtig Krähwinkel: Der Künstler und Autor Schuldt inspiziert Hamburgs "HafenCity".

Von Till Briegleb

Krähwinkel möchte Weltstadt spielen, findet Schuldt. Das regt ihn auf. Denn Schuldt hat die Hamburger HafenCity - genauer: ihre Straßennamen - einer kritischen Tauflektüre unterzogen. Und weil er als Künstler auch ein Korrektor ist, und zwar kein milder, jucken Schuldt an Namen wie "Shanghaiallee" die falschen Federn. Warum putzt sich die Stadt mit der englischen Schreibweise einer Straße heraus, die keine Allee ist und nirgendwo den "Blick über das Meer" hergibt, was "shang hai" übersetzt bedeutet? "Globalisierungsattrappen" nennt Schuldt sehr zu Recht diese euphemistischen Straßenschilder in einem traditionslosen Neubaugebiet, das den "Hafen" im Namen trägt, obwohl hier niemand mehr mit dem Schiff nach Schanghai fährt - oder nach Osaka, Korea, Buenos Aires und Singapur, den weiteren Namensgebern baumlose Asphaltstrecken.

Dann doch lieber richtig Krähwinkel, sagt sich der Autor - dessen schlichter Name so frei vom Verdacht heraldischen Brunftröhrens ist, dass er für seine lexikalische Aufgabe bestens präpariert scheint. So beginnt Schuldt, der als Hörspielautor schon 1970 die WDR-Empfänger gegen sich aufbrachte, indem er einfach Straßennamen im Radio vorlesen ließ, mit der Überschreibung dieser Adressangeberei. Für die "Skizze eines Anthropotops" sammelt und erfindet er bessere Namen, die "in der Arbeit und Sprache des Ortes verankert sind."

"Vörn Beatschuppen", "Dröge Kuhle", "Groot Vergeten" oder "Quiddjes Tanz" lauten Schuldts Vorschläge, wie man mit ein paar Wegschildern den Renditerausch globaler Geschichtsvergessenheit ein wenig stören könnte. Seine Begriffserläuterungen zu den plattdeutschen Reminiszenzen erzählen von Schauerleuten und Landratten, leichten Schuten und einem Tropenausrüster, von der Hackordnung in der Casablanca-Bar und Jakobsleitern an Überseeschiffen, vom Nutzen der Apfelsinenkisten und von Proberäumen in brach gefallenen Hafenschuppen als Vorläufer der Immobiliensense auf den Kaianlagen.

Man muss nicht in einer Hafenstadt leben, um in Schuldts Fanggründen fündig zu werden

Diese mal sachlichen, mal polemischen Faktenerzählungen zu aussterbenden Begriffen und Erinnerungen sind recht frei von Sentimentalitäten. Gerade in seiner kunstvollen Sachlichkeit macht Schuldts Wörterbuch des proletarischen Hafens schmerzhaft bewusst, dass die Umwandlung des Hamburger Zollfreigebiets in eine Stadt der astronomischen Quadratmeterpreise keine Spuren übriglässt von den Geschichten und Begebenheiten eines wasserseitigen Warenumschlagplatzes händischer Arbeit. Schuldt, selbst Spross eines norddeutschen Reederstammbaums, wenn auch eher als "schwarzes Schaf", wie er sagt, nennt seine "Hamburgische Schule des Lebens und der Arbeit" daher im Untertitel: "Die vergehende Wahrheit."

Was ihm aus dem Wutanfall zur "Shanghaiallee" über die alten Zeiten eingefallen ist, die er als 1941 geborenes deutsches Kriegskind selbst noch erlebt hat, später nicht nur in Hamburg, sondern auch in New York und China, das handelt nicht von großen politischen Weltereignissen. Es handelt von speziellen Handgriffen und schlechter Sicht, von Magellan (der für einen Platz in der HafenCity herhalten musste), Klaus Störtebeker oder der Beerdigung des Freundes Marcel Broodthaers in Brüssel. Französische Deserteure in der berühmten Hamburger Kneipe "Palette", die nicht in den Algerienkrieg ziehen wollten, tauchen auf, und die beliebtesten Zigarettenmarken des Jahres 1949.

All dieses Material aus Schuldts virtuosem Leben ergibt eine Partitur des Verstummten in den vielen Tonarten der Maloche. Oder ein Porträt des Ortes aus einer Zeit, als sich das Fotografieren von Arbeit noch gelohnt hat, wie Schuldt mit Blick in die gläsernen Bürotürme der HafenCity sarkastisch feststellt. Ja, da kommt dann doch etwas trauernde Nostalgie vorbei anlässlich der Erinnerung an eine abgründige Vergangenheit ohne moderne Geschmacksglätte, die man aber leider nicht unter Denkmalschutz stellen konnte.

Der eigensinnige Herr Schuldt, der in den sieben Jahrzehnten seines neugierigen Lebens als Dichter und Künstler wirkte, Fahrräder baute, Tischler lernte, Radio machte und Salat (für den Autor dieser Rezension), und der gerade an einem großen Wörterbuch der Sprachschludrigkeit arbeitet, formuliert mit seiner "Schule des Lebens" wie nebenbei einen energischen Einspruch gegen die "privatwirtschaftlichen Entgleisungen" einer überschleunigten Welt. Aber diese Systemkritik erscheint nie im Protestgewand der Parole, sondern allein durch Wissen und zielgenaue Lakonie. So erzählt Schuldt, der als öffentlicher Kulturmensch nie einen Vornamen führte, in teils knappen, teils weitschweifigen Protokollen vergangener Hafenwirtschaft vom bedenkenlosen Verlust des Lokalen in der Moderne. Und man muss nicht in einer Hafenstadt leben, um in diesen Fanggründen kultureller Vielfalt fündig zu werden mit der Einsicht, dass früher nicht alles schlimmer war. Und dann hat einen der Autor erfolgreich geschangheit - was zu verstehen man dann vielleicht doch mal dieses Buch lesen sollte.

Schuldt: Hamburgische Schule des Lebens und der Arbeit. Berenberg Verlag, Berlin 2019. 136 Seiten, 25 Euro.

© SZ vom 25.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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