Deutsche Literatur:Banales und Angst

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Heinrich Bölls Stichwortkladde wird völlig zu Unrecht als sogenanntes "Kriegstagebuch" vermarktet.

Von Götz Aly

Literaturwissenschaftler werden aus dem faksimilierten Kalender des Infanteristen Böll einige Fußnoten destillieren - Leserinnen und Leser, die Heinrich Böll als menschenfreundlich erzählenden Vermittler zwischen dem gewalttätigen Gestern und dem friedlichen Heute schätzen, werden diese Dokumentation schnell beiseitelegen. Der Untertitel "Die Kriegstagebücher 1943 bis 1945" entpuppt sich nach den ersten Seiten als Schwindel. Es handelt sich keineswegs um ein Tagebuch - wie es etwa Victor Klemperer oder Thomas Mann hinterlassen haben -, sondern um schnell hingeworfene Stichwörter, dürre Gedächtnisstützen, meist um Banalitäten. Einer der durchschnittlichen, hier vollständig wiedergegebenen Einträge lautet: "9.11.44. Post von Anne-Marie / Stanislau die Stadt / Spaziergang in Stanislau / Die Deutschen und die Volksdeutschen".

Böll hatte diese Kladden "konsequent in seinem Testament von einer Veröffentlichung ausgeschlossen". Das teilt dessen Sohn René mit, um sich dann mit gewundener Rechtfertigung ("Nach langer und reiflicher Überlegung und Beratung ...") über den letzten Willen seines Vaters hinwegzusetzen.

In diesem Stichwortkonglomerat findet sich kein oppositioneller Satz

Das Titelzitat "Man möchte manchmal wimmern wie ein Kind" stimmt bestenfalls halb. In der gekürzten Form weist es auf den späteren Pazifisten, in der originalen Langform auf gewöhnliches Elend im Schützengraben - "Man möchte vor Dreck und Müdigkeit manchmal wimmern wie ein Kind." Auch die im Untertitel angegebene Jahreszahl 1943 führt den Leser an der Nase herum. Die Notate umfassen nicht das ganze Jahr, sie beginnen am 30. Oktober mit dem (hier gleichfalls komplett zitierten) Eintrag: "Abfahrt in Eu". In den Ankündigungen behauptet der Verlag Kiepenheuer & Witsch, er präsentiere den Freunden des guten Heinrich B. "die Sensation" der Herbstsaison, und das zum 100. Geburtstag des Autors. Die irreführende Reklame macht der gutgläubigen, häufig um weihnachtliche Geschenkideen verlegenen Böll-Gemeinde weiß, der Autor habe diesen Kladden das Allergeheimste anvertraut, weil sie im Gegensatz zu den Briefen "die Zensur nicht passieren mussten".

Reine Sensationsmache! In dem gesamten Stichwortkonglomerat findet sich kein oppositioneller Satz, nichts, was auch nur entfernt als sogenannte Wehrkraftzersetzung hätte gedeutet werden können. So lesen wir am 8. November 1943 lapidar: "Abends Führerrede im Waggon!".

Am 24. Dezember 1943 meinte der leichtverwundete, langsam Genesende: Wir werden den Krieg gewinnen, "denn die Verwundeten mit einem Arm wichsen die Stiefel und waschen ihre Kragenbinde". Das kann man als Sarkasmus deuten. Aber am nächsten Tag, notiert derselbe Böll voller Ernst: "Zum ersten Mal gewinnt in meinem Gehirn der Gedanke Realität, dass ich vielleicht mit Anne-Marie nach dem Krieg vielleicht hier im Osten ein koloniales Dasein führen könnte ..." War er noch von der Weihnachtsfeier betrunken? Vermutlich nicht. Denn eine Woche später, im 2001 veröffentlichten Silvesterbrief an die Familie, schreibt er: "... und doch denke ich oft an die Möglichkeit eines kolonialen Daseins hier im Osten nach einem gewonnenen Krieg."

Wie die allermeisten Landser freute Böll sich über Zigaretten, Cognac, notfalls Kräuterbitter, die "Marketender-Ware", "Die russische Medizinstudentin! Natascha!" und über "das Führerpaket", das er aus dem Osten für den Urlaub mitbekam. Er klagte viel über den öden Soldatentrott und las - das unterschied ihn von seinen Kameraden - so viele Bücher wie möglich. Am 13. Juli 1944 fand er: "Ernst Jünger: In Stahlgewittern, ein tolles Buch". Am 20. Juli notierte er knapp: "Attentat auf Hitler während wir im Konzert sind."

Nichts daran ist sensationell. Mit dem schillernden und deshalb eindrucksvollen Gehalt der 2001 erschienen Kriegsbriefe, kann es die Edition der Kladden nicht entfernt aufnehmen. Ebendeshalb greifen die Herausgeber immer wieder auf die Briefe zurück, um die dürftigen Notate wenigstens mit etwas Inhalt zu füllen - sofern man bis zu den Anmerkungen durchhält. Leider strotzen auch die vor Umstandskrämerei und Banalitäten. Wer braucht zum Eintrag "Domhotel" in Köln diese Belehrung: "Gegenüber der Südfassade des Kölner Doms gelegenes Hotel, das nach einem Vorgängerbau zwischen 1890 und 1893 im neugotischen Stil errichtet wurde."

Im Herbst 1943 wurde Böll mit seiner Einheit auf die Krim verlegt

Der 1917 geborene Heinrich Böll gehörte zu jener um ihre jungen Jahre komplett betrogenen Männergeneration, die 1938 zum Reichsarbeitsdienst eingezogen, dann direkt in den Krieg gejagt wurde, um im Fall des Überlebens noch eine mehr oder weniger lange Zeit in Gefangenschaft zu verbringen. Gemessen am Schicksal der meisten seiner Altersgenossen kam Böll glimpflich durch den Krieg. Er bevorzugte Schreibstuben und - in "la douce France" - Übersetzertätigkeiten, er bewachte russische Gefangene und erkrankte häufig. Kampfgeist, Kommissdrill, grobes Herummännern, Hass und Herrenmenschentum blieben ihm fremd. Das lag an seinem Individualismus, seinem katholischen Glauben, seinem Familiensinn, seiner Liebe zu Anne-Marie (später Annemarie geschrieben). Durchaus verständlich machte auch ihn der Krieg stumpf und selbstbezogen. Das Leid der von deutschen Aggressoren terrorisierten Menschen in Frankreich, Polen, Russland, Rumänien, Ungarn ließ ihn ziemlich kalt. Böll wollte weder für den Führer noch für Volk oder Vaterland sterben. Obwohl er knapp sechs Jahre lang Soldat sein musste, hatte er insgesamt nur sechs Wochen lang Fronteinsätze auszustehen. Doch während des ersten Einsatzes hätte es ihn in jeder Minute tödlich treffen können. Im Herbst 1943 wurde er mit seiner Einheit von Frankreich auf die Krim verlegt und nahe der Stadt Kertsch an die Front geworfen. Dort hockte er eingegraben "in einem von Artillerie zermahlten Sonnenblumenfeld". Die wenigen Seiten aus der Zeit vom 12. November bis zum 2. Dezember 1943 unterscheiden sich fundamental vom meist nichtssagenden Rest der Notate: Ungeformt, karg, verzweifelt, öffnen sie den Blick auf den flackernden Glutkern des vom Krieg geprägten Frühwerks von Heinrich Böll, ebenso machen sie dessen spätere literarischen und politischen Anstrengungen verstehbar, diese Traumata mit Hilfe anderer, aktueller Themen wenigstens zu überdecken. Wirklich überwinden konnte er sie niemals - wie so viele seiner Altersgenossen. Hier nicht dramatisierend zusammengefasst lesen sich die Notate dieser 20 Tage so: "Anne-Marie, mein Leben. Gott gebe, dass ich Dich wieder sehen darf. Gott lebt! Gott lebt! Abends vorne eingeschlossen. Morgens Trommelfeuer durch Artillerie, Granatwerfer, Flieger, Panzer; zwischendurch Panzerangriff. 3 Panzer sind vor unserer Linie erledigt!" - "Blut, Dreck, Schweiß und Elend; das Gejammer der Verwundeten und Sterbenden" - "Vorne bei irrsinniger Kälte. Das Fluchen der russischen Kutscher. Die Stukas". - "Uffz. Scheer gefallen +, Strieche vermisst. Das Essenholen!! Das Feuer der Scharfschützen." - "Morgens Trommelfeuer, das Schlimmste bisher die 'Stalin-Orgel'".

Dazwischen kleine Bunker bauen, Gräben schanzen, Zigaretten, "der wunderbare Cognac". - "Die entsetzlich kalte, elende Nacht." - "4 Wochen nicht gewaschen", im Halbschlaf "unglaublich nahe und innige Gedanken und Erinnerungen an Anne-Marie, mein Leben ..." Läuse. "Zwei Mann meiner Kp. werden vom eigenen MG erschossen." "Lt. Spieß fällt neben mir um 12.40 (Die 'brauchbaren' Dinge!). Die russische dunkle Erde trinkt viel Blut von Lt. Spieß. (Seine Frau: Frau Spieß, Köln-Nippes Auerstr.) Fürbitten für Lt. Spieß."

Schließlich. Am 2. Dezember: "Abends selbst verwundet" - an Kopf und Hand, aber nur mäßig. Panjewagen, LKW, Hauptverbandsplatz, kleine Operation.

Drei Tage später wurde Böll mit einer Ju 52 nach Odessa ausgeflogen: "Für 30 Mark Dankesmesse lesen lassen, dass meine Verwundung so glücklich verlaufen ist. Die Russenmädchen. Die entsetzlichen Stukas und Unfreundlichkeit der Sanitäter. Furchtbare Nacht voller Schmerzen ohne Schlaf, die Latrine, beim Arzt! Deutschland?!! Nachmittags zum Arzt, D.L.Z. (Durchgangslazarett) das Zauberwort wird auf meinen Zettel geschrieben. In Erwartung des Herrn Obergefreiten. Das Rattengesicht. Noch eine Nacht in der Sammelstelle zwischen Tripper-Kranken! Schmerzen, Schmerzen." Nach diesen dramatischen Wochen versanden die Notate im Alltäglichen: "Mein 8 Wochen Bart fällt durch den russischen Frisör. Entlausung!"

Von den 352 Seiten der Böll-Dokumentation sind allein jene 26 Seiten lesenswert, die von der Schlacht um die Krim berichten, von Verzweiflung, Tod, Schlamm, Durst, Suff, Kampfeszwang und Verwundung. Sie gehören zum Kanon der deutschen Nachkriegsliteratur und in den Schulunterricht. Ohne die überflüssigen Komplettfaksimiles des Kalenders würden sie auf sechs Seiten schrumpfen.

Heinrich Böll : Man möchte manchmal wimmern wie ein Kind. Kriegstagebücher 1943 bis 1945. Hrsg. von René Böll, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017. 352 Seiten, 22 Euro.

© SZ vom 10.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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