Deutsche Gegenwartsliteratur:Wenn Engel entgleisen

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In ihrem neuen Roman lockert Olga Martynova das Band von Raum und Zeit, beflügelt das Erzählen, folgt verschiedenen Lockvögeln und macht die Art und Weise sichtbar, in der Gesellschaften in ihrem Inneren Grenzen ziehen und Standards des Lebens definieren.

Von Nico Bleutge

Wer in früheren Zeiten Vögel fangen wollte, baute sich einen sogenannten Vogelherd. Eine Art Vogelfangstation, mit Leimruten oder Schlagnetzen. Dazu benutzte der Vogelsteller Singvögel als sprichwörtliche Lockvögel, denen er das Zungenbändchen einschnitt und die Hornhaut ausglühte. Der Dichter Thomas Kling hat die Prozedur dieser "lockeren gefangnschaft" einmal in die Sprache eines Gedichts verwandelt. So, wie die Vögel vom Vogelsteller versehrt werden, zergliederte Kling die Verse und Wörter - auf dass die Zeit sich dehne und die Gewalt spürbar werde, die mit dem Akt verbunden ist.

Auch die Schriftstellerin Olga Martynova tastet in ihren Büchern der Verschwisterung von Schönheit und Gewalt nach und sieht sich an, wie das Einfache und das Existenzielle verknüpft sind. In ihrem Roman "Mörikes Schlüsselbein" (2013) beschreibt sie an einer Stelle das titelgebende Dichter-Relikt, das am Eingang des Tübinger Stifts hinter Glas liegt: "Überraschend viele Abtönungen von Cremebeige, Aschgrau und Honigbräunlich für ein schmales und nicht sonderlich langes Stück Bein". Eine triste Szenerie - doch was Martynova aus dem aschgrauen Knochen hervorzaubert, ist nicht weniger als ein funkelndes Stück Literatur voller versteckter Affinitäten.

Nur: Auch die umgekehrte Bewegung gilt. Worüber Engel wohl lachen, fragt sich eine der Figuren im Schlüsselbein-Roman. Die Antwort: "Darüber, dass die Menschen jeden Quatsch für wichtig halten, von dem die Engel wissen, dass es nichts ist." Ein Schlüsselbein kann eben beides sein, eine Reliquie oder auch nur ein Hühnerknochen, der sich einem Studentenscherz verdankt, wer weiß.

Nun hat Olga Martynova einen ganzen Roman zu der Frage geschrieben, was die Engel wissen können und was nicht, wie sie uns Menschen sehen, was sie hören und riechen und worüber sie sonst noch lachen. Und sie hat sich, in Anlehnung an den Vogelherd, einen Engelherd ausgedacht. Ein solcher Engelherd ist kugelförmig und besteht aus einem trüben Silberspiegel, über dem eine Nadel befestigt wird. Die Lockvögel sind in diesem Fall die Gefühle der Menschen. Genauer: die Momente, in denen höchstes Glück in Leid umschlägt. Dann schreit der Engel auf, die Nadel fliegt in sein Herz - und er stürzt in die Falle, die sofort zuschnappt. Ein tatsächlich herzloser, grausam klingender Vorgang.

Olga Martynova: Der Engelherd. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016. 368 Seiten, 23 Euro. E-Book 19,99 Euro. (Foto: verlag)

In einem ihrer Gedichte schreibt Olga Martynova von den "Spinnen, den Mücken, den Heimchen", die nachts in unsere Wohnungen kommen und ihr "Summ-Summ" singen, während wir schlafen und nichts von ihnen wissen. Für die Dichterin sind diese Wesen "unsere Ahnen", die uns bewachen, manchmal auch ans Leben wollen. So ähnlich können wir uns die Engel dieses Buches vorstellen, die all die unterschiedlichen Erzählungen zusammenhalten. Da gibt es die Geschichte des zwischen Ironie und Schrulligkeit hängenden Schriftstellers Caspar Waidegger und seiner viel jüngeren Freundin Laura Schmitz, eine Geschichte, die sich anfangs wie ein leichter Sommerplausch liest. Wir kennen beide aus "Mörikes Schlüsselbein", vor allem Laura, die dort die Geliebte einer der Hauptfiguren ist. Aus dem "Streichholzmädchen, mit langem Körper und rundem, dunklem Kopf" wird nun eine Frau von "leiser Sanftheit", die ihre unglückliche Liebe zugleich erduldet und lebt.

Da gibt es das "Journal eines Engelsüchtigen", das uns die Welt der Engel näherbringt. Und da gibt es die Geschichte "Zwischenfall am See", eine als Gesellschaftsspiel begonnene Erzählidee, die Waidegger übernimmt und zu seinem neuen Buch macht. Darin spinnt er die Geschichte seiner eigenen Tochter fort, die mit einer Behinderung lebt und von ihm lange Zeit vernachlässigt wurde. Seine Sätze formieren sich zu einer historischen Konstellation, die zurückführt ins nationalsozialistische Euthanasie-Programm.

In seinem Innersten tastet Martynovas Roman der Frage nach, wie eine Gesellschaft Grenzen zieht. Wie werden die Menschen in ihr unterschieden, was wird als Standard gesetzt - und wer wird ausgegrenzt, im schlimmsten Fall (man denke an die Erzählung, die im Dritten Reich spielt) getötet. So ist "Der Engelherd" ein sehr gegenwärtiges Buch, das Gedanken darüber entwickelt, was Eindeutigkeit meint und was Vielheit, was Datensammeln heißt und was Kontrolle, wie das Verhältnis von Eigenem und Fremdem ist oder von Körper und Geist.

Das "Engelische" ist gleichsam der Versuch, zwischen diesen unterschiedlichen Welten zu vermitteln. Ja, mehr noch, das Engelische ist die eigentliche Poetik des Romans, nicht der Chimäre einer linearen Geschichte nachzustreben oder der Ideologie, Grenzen zu ziehen, sondern sich Sprüngen anzuvertrauen, Lücken, Bedeutungsschichten und der Idee von Gleichzeitigkeit. Geschickt nutzt Martynova ihre Engel, um Raum und Zeit zu dehnen, hier über die Sprache nachzudenken, dort kleine Geschichten einzuspeisen, von Dichtern, Musikern und Malern. Das alles lebt von Andeutungen und einer Kunst des Arrangements. Die Motive und Sprachteilchen können dabei von einer Geschichte in die andere wandern, sich gegenseitig kommentieren oder ergänzen - so werden Tag und Nacht ununterscheidbar.

Trotzdem erreicht der Roman nicht ganz die Souveränität seines Vorgängers. Wo "Mörikes Schlüsselbein" locker und spielerisch wirkt, hat man hier bisweilen das Gefühl, die Querlinien seien wieder und wieder nachgezogen worden, damit man die Verbindungen auch ja nicht übersehe. Manchmal, etwa in den Passagen über eine Unterhaltungsschriftstellerin oder über einen Besuch in Bayreuth, verliert sich der Roman auch schlicht in einer Satire auf den Kunstbetrieb. Wie heißt es einmal über die Engel? "Die Wahrheit ist: Sie verstehen gar nichts." Ein bisschen mehr von der Wahrheit des Nichtverstehens hätte dieses engelische Buch noch engelischer gemacht.

© SZ vom 18.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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