Deutsche Gegenwartsliteratur:Romantisches Mineralwasser und Verrenkungskünstler

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In "Rimini" von Sonja Heiss ist ein Wellensittich hilfreicher als die Psychoanalytikerin. Ein Familienroman über verfehlte Lebensziele, von einer Autorin, die das Erzählen beim Film gelernt hat.

Von Anna Fastabend

Der schönste Moment in Barbaras Leben findet in einem schäbigen Hinterzimmer statt und dauert nur wenige Minuten. Sie schläft mit einem hübschen Kellner, der ihr am Tag zuvor ein Mineralwasser ausgegeben hat. Das alles passiert während ihrer Hochzeitsreise mit Alexander in einem Hotel in Rimini. Es wird das einzige Mal bleiben, dass sie sich für das Abenteuer entscheidet und erahnt, welche Möglichkeiten jenseits ihres durchschnittsdeutschen Lebens auf sie warten. Die Einmaligkeit hat aber auch ihr Gutes, die Erinnerung an Giovanni ist ein vollkommener Rückzugsort, über den der Rest ihrer Familie nicht verfügt.

Sonja Heiss hat mit "Rimini" einen Roman geschrieben, der realistisch von den Ernüchterungen des Lebens und des Liebens handelt. Endlich im Ruhestand wünscht sich Alexander nichts sehnlicher, als Zeit mit seiner geliebten Barbara zu verbringen. Die hat ihn aber nur geheiratet, weil sie damals von ihrer tyrannischen Mutter loskommen wollte, und ist im Rentenalter zusehends von seiner Anhänglichkeit genervt. Auch Sohn Hans geht es miserabel: Der kindliche Jähzorn des Juristen verprellt seine Mandanten und zerstört seine Ehe. Tochter Masha realisiert mit Ende 30, dass aus ihr keine berühmte Schauspielerin mehr werden wird. Sie wünscht sich stattdessen ein Kind, entwickelt aber zur gleichen Zeit eine körperliche Abneigung gegen ihren Freund.

Beim Lesen des Romans hat man automatisch den Song "Was hat dich bloß so ruiniert" von der Band Die Sterne im Kopf: "Warst du nicht fett und rosig / Warst du nicht glücklich / Bis auf die Beschwerlichkeiten / Mit den anderen Kindern streiten / Mit Papa und Mama / Wo fing es an und wann / Was hat dich irritiert..." Denn nach objektiven Maßstäben geht es Familie Armin nicht schlecht, sie hat keine Schicksalsschläge erlitten - aber weh tut es trotzdem, wenn sich die Lebensziele der vier eines Tages gnadenlos gegen sie selbst wenden.

Die Autorin hat das Erzählen beim Film gelernt

Mit psychologischer Raffinesse schildert Sonja Heiss abwechselnd anhand ihrer vier Hauptfiguren, was gesellschaftliche Erwartungen auslösen können. Da wäre der Leistungsdruck: Hans wächst die Arbeit als Anwalt über den Kopf und er steigert sich in eine Wutspirale hinein. Dann die Selbstoptimierung: Um wenigstens von der Werbebranche engagiert zu werden, lässt Masha sich die Falten wegspritzen. Und traditionelle Rollenmuster: Wenn Alexander den Boss über Heizkosten und Auswärtsdinner mimt, wird Barbara zum unmündigen Kind, das durch depressive Schlafanfälle dann aber doch die Oberhand gewinnt. Hans leidet unter seiner Rolle als Ernährer, während seine Frau damit kämpft, dass sie nach der Geburt von zwei Kindern vor allem Mutter ist. Bei festgefahrenen Situationen wie diesen hilft manchmal nur ein Neuanfang.

Sonja Heiss hat das Geschichtenerzählen im Filmbereich gelernt, und das merkt man dem tragikomischen Roman auch an, der abwechslungsreich, szenisch und in einer schnörkellosen, klaren Sprache verfasst ist. Bei ihrem jüngsten Film "Hedi Schneider steckt fest" schrieb sie das Drehbuch und führte Regie. Er lief 2015 auf der Berlinale und handelt von einer Frau Mitte 30, deren Leben durch plötzlich auftretende Panikattacken durcheinander gerät. Auch "Rimini" steckt voll von liebenswerten Charakteren und pointierten Dialogen. Besonders gut ist der Autorin der Schlagabtausch zwischen dem zynischen Hans und seiner Psychoanalytikerin gelungen. Die zahlreichen originellen Einfälle im Roman sind für eine Verfilmung wie gemacht: Masha sucht ausgerechnet an dem Tag eine Abtreibungsklinik auf, als davor eine Gruppe Abtreibungsgegner protestiert. Der von seiner Frau zurückgewiesene Alexander findet schlussendlich bei einem sprechenden Wellensittich Trost.

Neben ihrem Talent für die Absurditäten des Alltags verfügt Sonja Heiss über eine andere weitaus seltenere Gabe: Die von ihr geschriebenen Sexszenen zwischen Masha und den potenziellen Vätern des Wunschkindes sind niemals peinlich, sondern amüsant und realistisch dargestellt. Daran können nicht einmal Körperausdünstungen, eine Erwachsenenzahnspange und Möchtegern-Sadomaso etwas ändern. Sie lassen einen nur um so stärker mit den Verrenkungskünstlern mitfühlen.

Sonja Heiss : Rimini. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017. 400 Seiten, 20 Euro. E-Book 16,99 Euro.

© SZ vom 21.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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