Deutsche Gegenwartsliteratur:Im Bauch des Wals

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Kathrin Röggla fängt in ihrem neuen Erzählungsband "Nachtsendung" das Flimmern und Rasen der Gegenwart ein. Jede ihrer Geschichten führt nah an einen Abgrund, in vielen ist ein grelles Lachen zu hören. Außerdem warten stillgelegte Kalibergwerke auf Atommüll.

Von Helmut Böttiger

Kathrin Röggla ist eine Virtuosin des offensiven Präsens. Bei ihr gibt es keine Innenschau, und auch keine Interieurs, die solch einer Innenschau entsprächen und häufig in Vorabendserien vorkommen: sanfte Einrichtungslandschaften oder schummrige Bars mit Sehnsuchtspotenzial. Diese Autorin richtet einen gezielten, dekonstruierenden Blick auf unsere alltäglichen Erlebniswelten: die "tristen Emanationen der strukturschwachen Zonen: Recyclinghöfe, Physiopraxen und Betonflachbauten", mittendrin dann die "Nordic-Walking-Ruinen", nämlich "diese reichen Fünfundsechzigjährigen, die in Neoprenanzügen mumifiziert über Deutschlands Landstraßen heizen". Und manchmal tauchen weiße Riesenzelte auf "mit jeder Menge Dixi-Klos außenrum".

Was den konkreten deutschen Alltag im Jahre 2016 ausmacht, wird in der gemeinen Literaturproduktion allzu oft weggelassen. Röggla hingegen zeichnet ihn detailgetreu auf. Ihre Erzählungen sind kurz, nahezu atemlos. Es sind im Grunde weniger Erzählungen als flimmernde und hypergenaue Standbilder, Momentaufnahmen, in denen alles gleichzeitig passiert. Die Figuren in diesen Prosaminiaturen sind weniger Handelnde als in irgendwelche Situationen Hineingestellte, die sie zwar nicht durchschauen, aber als selbstverständlich hinnehmen.

Manchmal taucht einer der Namen in einer anderen Geschichte wieder auf, das ist jedoch nur ein eher sarkastischer Hinweis auf Individualitäten und Handlungsbögen. Die Namen und die Schicksale sind austauschbar, die Software der Gefühlsskalen ist vorgegeben. Privates, Öffentliches, Berufliches sind auf den Tastaturen nicht mehr getrennt. Zwischen den Bildschirmlandschaften in den Büros und den Spielplätzen, auf denen "eher die wenigen Kinder auf die vielen Eltern aufpassten als umgekehrt", sind die Übergänge fließend.

Kathrin Röggla: Nachtsendung. Unheimliche Geschichten. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main. 282 Seiten, 22 Euro. E-Book 19,99 Euro. (Foto: verlag)

Diese Prosa lebt vom Rhythmus, vom Variationsreichtum, von Reihungen und Wortanhäufungen, die zwischen Hip-Hop, Trip-Hop und Rap agieren. Der Typus der neuen Angestellten, vor allem der Manager in Industrie, Politik und Medien wird in einem hautnahen Realismus evoziert, der so schonungslos ist, dass er über einen bloßen Realismus hinausweist.

Einmal finden sich 1400 Geisteswissenschaftler in einem Marriott in Washington ein, und das "Hauen und Stechen" in diesen "Lounge- und Konferenzwelten" wird durchsetzt vom Chlorgeruch des Hotelschwimmbads. Es geht um Jobsuche und darum, "in welchen Zusammenhang man hineinwollte", und langsam wird es klar, dass der diffuse Chlorgeruch die allgemeine Lage charakterisiert, dass er das Einzige sein wird, was übrig bleibt. Dass Kathrin Röggla ihre Texte im Untertitel "Unheimliche Geschichten" nennt, hat nichts mit Fantasy oder dem üblichen Horror-Genre zu tun: Das Unheimliche entsteht aus den sofort wiedererkennbaren Szenarien im öffentlichen Raum, aus den Kommunikationsnetzen und -gestrüppen, aus dem undurchdringlichen Dickicht des aktuellen Handelns.

Einige Geschichten nehmen eine wahrhaft surreale Wendung, enden in einem bösen apokalyptischen Märchen. Andere wiederum rufen das Surreale bereits in den gewohnten Abläufen hervor. Bei einer Ortsbesichtigung im anhaltinischen Staßfurt führt ein Geologe ein Grüppchen Investitionswilliger durch ein stillgelegtes Kalibergwerk, das als Atommüll-Endlager vorgesehen ist. Es geht um etwas Reelles und Renditeträchtiges, doch noch ist es eine "Investitionsfiktion", und man taxiert kurz die Risiken, "als wären sie unkonkret und weithergeholt, weil man sie ja nicht ausbaden würde müssen, 'dafür hat man ja sein Expertenteam'." Aber immer, wenn es darauf ankommt, verflüchtigt sich das "Expertenteam" - eine Struktur, die sich in diesem Band wiederholt, etwa auch bei einer Exkursion von Medienleuten nach Kosovo, in der Trennung von "Expertenbus" und "Teambus".

Jeder dieser Texte ist nah am Abgrund. Und man hört dabei ein grelles Lachen

Kathrin Röggla fängt oft mittendrin an, eines der Stücke beginnt programmatisch mit dem Wörtchen "Währenddessen". Die Texte hangeln sich in ihrer Übertreibungsartistik, in ihren konjunktivischen Reihungen und in indirekter Rede hoch wie in den Suaden Thomas Bernhards, sie sind aber in den Laptop- und Handy-Galaxien des zeitgenössischen Bewusstseins angesiedelt. In dem Text, in dem beiläufig das Wort "Nachtsendung" auftaucht, das der Sammlung den Titel gibt und dadurch etwas Metaphorisches gewinnt, befindet sich der Radiomoderator plötzlich im "Bauch des Wals". Denn nachdem es zuletzt in den Achtzigerjahren das Stottern gegeben und sich dann im Lauf der Neunziger und Nullerjahre gelegt hatte, taucht in der Mitte der Zehnerjahre das Stottern wieder auf. Doch es ist ein neues Stottern. Selbst das Mitglied einer Punk-Band, das gerade zum Interview im Studio sitzt und alles immer mitgemacht hat, bringt kein Wort mehr heraus. Ohne ausdrückliche Thesen und Begrifflichkeiten wirkt diese skurrile Szenerie wie ein rasender Durchgang durch die Kulturwüsten der letzten Jahrzehnte. Eine Lösung gibt es nicht, es gibt nur dieses Rasen. Das aber wird von der Autorin kongenial durchgeführt.

Kathrin Röggla spielt im Lauf des Buches immer vehementer mit apokalyptischen Visionen. Vornehmlich gibt es Apokalypsen in allem, was mit Flugzeugen und Flughäfen zu tun hat, einmal wird im Rückblick festgestellt, dass ein Großflughafen "damals halb Deutschland bedeckt" habe. Jeder dieser Texte befindet sich nah am Abgrund. Es ist ein grelles Lachen, das man dabei hört und das ständig widerhallt - die hysterische Affirmation des Gegebenen kippt bei den in ihre Handlungen hineingetriebenen Figuren zwangsläufig um in eine heftig rotierende Leere.

Einmal bemerkt eine weibliche Protagonistin, wie sich "die Landschaft langsam auflöste, ganz weit hinten begann es wie ein Grisseln, das ins Flimmern wechselte, Datenschatten, nannte man das wohl." Dies ist ein Bild, das bleibt. Irrwitz und Gegenwart: Diese Autorin spürt akute Datenschatten auf und bringt ihre Sätze darin unter.

© SZ vom 18.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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