Deutsche Gegenwartsliteratur:Hinkender Spott

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Ernst-Wilhelm Händler weckt in "München" den Appetit auf einen Gesellschaftsroman. Und serviert Häppchen aus dem Milieu, das sich gern für die bessere Gesellschaft hält. Taugt das Buch wenigstens als Roman einer Stadt?

Von Hans-Peter Kunisch

Thaddea, Anfang 30, steht mit ihrer Privatpraxis für psychosomatische Medizin und Therapie ganz am Anfang. Kaum ein Patient wagt sich zu ihr, aber sie erkennt bald: Beruflicher Erfolg ist unwichtig. "Ein Kunde im Jahr. Warum nicht?" Thaddeas Eltern sind bei einem Heliskiing-Unfall ums Leben gekommen, das hat ihre Existenz gesichert. Der Vater war ein erfolgreicher Münchner Steueranwalt. Sie könnte es sich auch leisten, gar nichts zu tun.

Aber jetzt hat sie nun mal diese Praxis, die von ihrer besten und einzigen Freundin Kata, einer international tätigen Architektin, eigens für sie konzipierte "Struktur", zu der Thaddea mit ihrem alten Q 3 ab und zu von ihrer, ebenfalls von Kata entworfenen, Villa in Grünwald aus aufbricht. Ein bisschen einsam ist sie, aber ja, es geht gut. Bis herauskommt, dass Kata und Ben-Luca, Thaddeas langjährig-distanzierter Gefährte, nach dem Ball der Pinakothek der Moderne (PIN) in der Rotunde kurz zusammengefunden haben. Thaddeas Welt, die winzig ist, schwankt. Der einzige nahe Bekannte, der ihr bleibt, ist Pimpi, den sie aber nicht leiden kann, der Sohn eines großen Immobilienplayers.

Seit seinem Erstling "Stadt mit Häusern" ist Ernst-Wilhelm Händler im deutschen Literaturbetrieb eine so exzentrische wie gern gesehene Erscheinung. Sein Erbe, einen mittelständischen Regensburger Betrieb mit zweihundert Angestellten, hat Händler bis 2002 geleitet und dann verkauft. So hat er, der studierte Philosoph, mitten in einer Wirklichkeit gestanden, vor der manchen Literaturkritikern bis zur Bewunderung graust. Mit vielschichtigen Wirtschafts-, Künstler- und Bildungsromanen wie "Sturm", "Fall" oder "Wenn wir sterben" hat Händler dazu beigetragen, dass der ökonomische Teil der Wirklichkeit auch literarisch immer aufmerksamer durchleuchtet wird.

Warum aber will dies bei "München. Gesellschaftsroman" nicht recht gelingen? Warum bleiben alle Hauptfiguren von Anfang an so seltsam steril? Es hat nicht zuletzt damit zu tun, dass "München" kein Wirtschaftsroman ist. Die ökonomische Irrelevanz von Thaddeas Existenz hält sie von interessanten Wirklichkeiten Münchens fern, was umso schwerer wiegt, als die Figur zudem sehr eindimensional angelegt ist. Sie darf Schriftstellerin werden wollen, aber das trägt ihr ähnlich spöttische Blicke des Autors ein, wie sie auch den larmoyanten österreichischen Schriftsteller treffen, der für Thaddea ein abschreckendes Beispiel ist.

Wer hat hier was mit wem? Der Blick in die Rotunde der Pinakothek der Moderne ist für die Heldin in "München" eher unerfreulich. (Foto: picture alliance / dpa)

Händler bringt für seine zickig-durchschnittliche Hauptfigur allenfalls das mokant-apathische Interesse auf, das sie selber der Welt gegenüber verspürt, und verpasst damit eine große Chance. Denn Thaddea hat eine Besonderheit, die als irritierendes Charakteristikum taugen würde: weil sie sich schon als Kindergarten-Mädchen leblos vorkam, wollte sie ausprobieren, wie es ist, wenn das hintere Rad eines Lieferwagens über einen ihrer Füße fährt. Seitdem ist dieser Fuß nicht mehr im besten Zustand. Thaddea muss ein kleines Hinken verstecken, denn in ihrer Welt gibt es keine Fehler. Eine junge, schicke Psychosomatikerin, die hinkt? Als sie kurz nachlässig ist, dreht ihr erster Kunde ab.

Statt Thaddea über ihr Defizit zu einer abgründigen Figur zu machen, vermittelt Händler, vielleicht aus Angst vor dem Klischee des armen reichen Mädchens, kaum mehr als die etwas billige Schadenfreude, dass Thaddea eben nicht so perfekt ist, wie sie sein möchte, und unterläuft damit den eigenen Ansatz zu einer mehrdimensionalen Figur. Thaddea sinniert über ihr kleines Elend, vor allem aber äußert sie sich wenig überraschend und meist abfällig über andere Figuren. Natürlich ist es Figurenrede, wenn Thaddea beim Empfang zum achtzigsten Geburtstag von Prinz Franz von Bayern auf Herrenchiemsee "beeindruckt" denkt: "Arroganz lag ihm nicht nur völlig fern, er brachte es auf geheimnisvolle Weise fertig, alle Arroganz um sich herum zu bannen. Natürlich konnte niemand in seiner Gegenwart auch nur daran denken, ihm gegenüber arrogant zu sein."

Aber die Suggestion, dass Thaddea, die blasierte Spötterin, gegenüber Autoritäten plötzlich von schlichter Naivität ist, macht die Passage nicht tiefenschärfer. Und dass Ben-Luca, der Repräsentant des Kunstbetriebs, wegen einer Fehlexpertise seinen Job bei einem Auktionshaus verliert, wird durch seine geschwätzige Reaktion nicht interessanter. Er bleibt eine schlichte Karikatur.

Leider ist dieser Gesellschaftsroman auch kein aufregender Stadtroman geworden. Das hat mit Händlers Verständnis von "Gesellschaft" in diesem Buch zu tun. Er hat sich, getreu der vielerorts herrschenden Vorstellung, München sei eine Schicki-micki-Stadt, nur mit dem Milieu beschäftigt, das sich gern für die bessere Gesellschaft hält. Das ist legitim, aber, wie sich zeigt, hier nicht abendfüllend. Helmut Dietl und Patrick Süskind haben, unter dem bescheideneren Titel "Rossini", einen Ausschnitt Münchens ironisch-spöttisch wie unter dem Brennglas gezeigt. Händler hebt "München" mit großer Geste in den Titel, weckt damit Erwartungen auf ein breiter angelegtes Panorama oder zumindest die exemplarische Analyse eines Ausschnitts, bleibt jedoch in seiner Fallstudie "Thaddea" stecken, die den Roman nicht über dreihundertfünfzig Seiten trägt.

Wer einen "Gesellschaftsroman" ankündigt, ruft historische und aktuelle Modelle auf wie Lion Feuchtwangers Roman "Erfolg" (1930) oder "Unterleuten" von Juli Zeh, die den Gesellschaftsroman in einem brandenburgischen Dorf angesiedelt hat. Ein Roman kann zeigen, wie die Atmosphäre eines Orts jeden langjährigen Bewohner affiziert. Er kann sich fragen, ob, und wenn ja, wie sich der Lebensstil der Türken in München von dem der Berliner oder Kölner Türken unterscheidet. Ähnlich reizvolle Fragen könnten sich aber auch bei der Beschränkung auf die Darstellung der "besseren" Gesellschaft ergeben. Händler bleibt stattdessen bei nicht mehr neuen Stilmitteln wie der exzessiven Nennung von Markennamen, und auch das Namedropping zur Freude der feinen Leute, denen man bei Kunst-Events kurz begegnet, fällt eher vorhersehbar aus. Mit dem doppeldeutigen Untertitel "Gesellschaftsroman", der ja sowohl ein bestimmtes Milieu, die "bessere" Gesellschaft, meinen kann wie die Gesellschaft als ganze, lässt man sich auf ein Genre ein, das von diesem Changieren lebt.

Hier bleibt es bei einzelnen Bonmots ("sie wäre lieber Nutte im Bahnhofsviertel als Beamtin geworden") und Figuren aus früheren Händler-Romanen, die als Thaddeas Kunden wiederkehren. Am besten gelingt das bei Hahl, dem Buchhalter des Architekten aus Händlers Roman "Sturm", der hier als Chef eine Privatsenders auftritt, mit neo-paternalistischer Attitüde, und bei Mitarbeitern für alles außer Selbstmord Verständnis hat. Diese Figur hat die Schärfe und Irritationsqualität der neuen Wirtschaftswelt, die der braven Thaddea fehlen. Gut, dass sie am Ende doch mit Pimpi schläft.

Ernst-Wilhelm Händler: München. Gesellschaftsroman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016. 350 Seiten, 23 Euro. E-Book 19,99 Euro.

© SZ vom 03.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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