Wie viele Dinge, die man unbedingt braucht, passen in einen Koffer, wenn man sein Zuhause verlässt? Die Koffer der Exilanten "reichen nicht aus", schreibt Yamen Hussein, der aus Homs geflüchtet ist. Die Eltern der 1981 in Leningrad geborenen Schriftstellerin Lena Gorelik, denen der Antisemitismus im Russland der postsowjetischen Umbruchszeit zu gefährlich wurde, ließen extra Taschen anfertigen, um das in langen Diskussionen ermittelte Notwendigste zu transportieren. Einen Koffer gab es auch. Einen Aktenkoffer aus orangefarbenem Leder, der Dokumente enthielt. Wie ein Baby habe ihn der Vater vor der Brust getragen, erinnert sich die damals elfjährige Tochter. Heute steht er hinter dem Kachelofen ihrer Münchner Wohnung, ein Erinnerungsstück, das sie weder wegwerfen kann noch jeden Tag vor Augen haben möchte.
Lena Gorelik ist in zwei der drei Sammelbände vertreten, die gerade zum Thema Migration erschienen sind. Wie einige andere hat sie eine Doppelrolle: In dem Band, "Wir sind hier. Geschichten über das Ankommen" erzählt sie selbst eine Migrationsgeschichte. In "Das Herz verlässt keinen Ort, an dem es hängt" bildet sie ein "Tandem" mit dem Schriftsteller Yamen Hussein. Die Publikationen sind aus Initiativen hervorgegangen, die Tandem-Konstruktion etwa gehört zum Projekt "Weiter Schreiben": Neu angekommene Schriftstellerinnen und Schriftsteller kommen mit Kollegen zusammen, die sich im deutschsprachigen Literaturbetrieb auskennen.
Das Projekt ist aus dem 2015 von 100 Frauen in Berlin gegründeten Bündnis "Wir machen das" entstanden, aus dem sich auch ein Portal für Literatur aus Krisengebieten ergeben hat, das seit Mai letzten Jahres online steht. Anders als beim Berliner Magazin Stadtsprachen werden die wöchentlich erscheinenden Texte nicht nur in Originalsprache, sondern auch in deutscher Übersetzung veröffentlicht. Die Texte der Anthologie "Das Herz verlässt keinen Ort, an dem es hängt" sind eine Auswahl dieser Veröffentlichungen, illustriert mit Zeichnungen, Collagen und Fotografien geflüchteter Künstlerinnen und Künstler.
"Ankunft" heißt eine andere Sammlung, sie enthält "Literarische Reportagen geflüchteter Autorinnen und Autoren" von großer literarischer Qualität. Sie setzen die Erfahrungen der Flucht und oft enttäuschenden Ankunft eindrucksvoll ins Bild. Neben etablierten syrischen Schriftstellern wie dem Theaterautor Daher Aita, der Lyrikerin Rasha Habbal, dem Lyriker und Literaturkritiker Kheder Alagha, dem von deutscher Philosophie und Literatur begeisterten Lyriker und Essayisten Mohamad Alaadin Abdul Moula, für den Deutschland einst ein "Traumland" war, findet man auch drei Berichte von minderjährig aus Afghanistan geflohenen Männern. Die schmale Anthologie entspringt dem gleichnamigen Projekt, das die Peter-Weiss-Stiftung erarbeitet und 2017 auf dem Internationalen Literaturfestival in Berlin vorgestellt hat. Die 1990 geborene Informatikerin und Lyrikerin Noor Kanj ist in diesem Band vertreten, die sich auch als Tandempartnerin von Svenja Leiber im Projekt "Weiter Schreiben" wiederfindet. Überhaupt fällt die gute Vernetzung der Initiativen auf. Jeder verweist auf den anderen. Man stiehlt sich weder die Schau noch streitet man um die Fördertöpfe.
Die dritte Textsammlung, "Wir sind hier. Geschichten über das Ankommen", ist aus der Münchner Begegnungsreihe "Meet your neighbours" entstanden. Thematisch ist dieser Band am breitesten gefächert. Neben den Geflüchteten unserer Tage geht es um die Flüchtlinge der Nachkriegszeit. Fotos zeigen die verheerenden Zustände in Münchner Flüchtlingsbaracken des Jahres 1949. Die Fischer von Lampedusa kommen zu Wort, die seit Jahren die Geflüchteten aus dem Meer ziehen, um sie danach der schlechten Behandlung in den Lagern ausgesetzt zu sehen.
Der Münchner Schriftsteller Friedrich Ani, dessen Mutter aus Schlesien und dessen Vater aus Syrien stammt, erzählt in "Der Syrer meiner Mutter", wie "zwei Fremde" einen "Einheimischen" zeugten. Ein Schwerpunkt liegt auf den deutsch-türkischen Biografien, etwa der Beobachtung der Fernsehjournalistin und Dokumentarfilmerin Banu Acun, dass ein türkisch klingender Name genügt, um "kein richtiger Deutscher" zu sein. Ihres siebenjährigen Sohnes wegen ist sie mit ihrem türkischstämmigen Mann, der in Deutschland aufgewachsen ist, von Istanbul nach Berlin gezogen. In keinem Land, schreibt sie, werde man so leicht wegen eines fremd klingenden Namens oder eines Akzents ausgegrenzt wie in Deutschland.
Auch vergleichsweise luxuriöse Aufbrüche lässt dieser Band als Beitrag zum Thema gelten. Das universitäre Prekariat, das den wenigen Stellen hinterherziehen muss, wird durch den Politikwissenschaftler Georg Picot vertreten. Dass er den Aufbruch als eine Phase mit Suchtpotenzial beschreibt, zeigt allerdings, wie sehr sich diese Art des globalen Nomadentums von Fluchterfahrungen unterscheidet. Es gibt keinen Text von Geflüchteten, der das Aufbrechen als euphorisierende Sache beschreibt. Oft zieht es sich über Monate und Jahre hin, ist von Skrupeln begleitet, mit Trauer, Schmerz und existenziellen Verlusten verbunden. Fast immer bleiben Freunde und Angehörige zurück, deren Schicksal ungewiss ist. Die Orte, die man als Kriegs- und Krisengebiete verlässt, werden nie mehr die gleichen sein, falls man sie überhaupt je wiedersieht. Als lebendige Erinnerungsorte sind sie verloren.
Die Lektüre dieser Anthologien konfrontiert uns mit vielen Einzelschicksalen. Die meisten Geflüchteten stammen aus Syrien, die Revolution im März 2011 teilt ihr Leben in ein Davor und ein Danach. Fluchtrouten wiederholen sich, Libanon, die Türkei, Griechenland, das Mittelmeer. Einzelne Aspekte brennen sich ins Gedächtnis. Die syrische Schriftstellerin Rasha Habbal wollte alleine fliehen, doch einer ihrer beiden Söhne bestand darauf, bei der Mutter zu bleiben. Die Erzählerin verbindet dramaturgisch die Angst, die sie bei einem Autounfall um den Sohn hatte, mit der Angst auf dem offenen Meer. Einen Monat lang harren sie an der griechischen Grenze aus, sie erledigt kleine Hilfsjobs für einen Schlepper, dann geht es endlich los. Doch das Boot wird von der griechischen Küstenwache aufgegriffen, der Motor soll über Bord geworfen werden, damit die Wellen ihre Arbeit machen und sie in türkische Hoheitsgewässer zurücktragen.
Selbst wenn man von solchen Praktiken weiß, spurt die eindringliche Erzählung eines Schicksals der Empathie tiefere Bahnen. Manchmal genügen die Stationen eines Lebenswegs als Stoff einer Geschichte. Die Autorin und Übersetzerin Angelica Ammar erzählt von Momar, der es schon mehrmals aus Senegal nach Europa geschafft hat, als Straßenverkäufer in Barcelona in einer alten Fabrik lebte, abgeschoben wurde, es in Frankreich probierte, in Belgien Asyl beantragte, schließlich eine Französin heiratete, deren Eltern jedoch in Panik gerieten, als sie schwanger wurde. Nach Dakar zwangsrepatriiert, versucht er nun, über Marrakesch und Agadir auf die Kanarischen Inseln zu gelangen.
Der Koffer ist nicht nur zentraler Gegenstand in zahlreichen Texten. Er ist ein Symbol, das uns ins Zentrum der existenziellen Erfahrungen führt, von denen die Anthologien berichten. Anders als beispielsweise in der Konsum-Klamotte "100 Dinge", die gerade in deutschen Kinos lief, geht es bei den Dingen, die in den Koffer von Exilanten kommen, nicht um Konsumgegenstände. Und auch nicht nur um das materiell Nötigste. Im Koffer überlagert sich der konkrete mit dem metaphysischen Aspekt der Flucht: "Zu behalten, wessen ich morgen bedürfen werde", könnte man die unlösbare Aufgabe mit Paul Valérys Monsieur Teste nennen. Und diese Bedürftigkeit ist auch seelischer Natur. Im Koffer sedimentiert sich die verlorene Heimat, er enthält Gerüche, Geschichten, Erinnerungen. Er ist eine Art Zuflucht, ein Ersatz und das Menetekel erneuten Aufbruchs.
Die seelische Verlorenheit konkretisiert sich häufig in banalen Gegenständen. "Ich sitze jetzt einsam / am runden Tisch / ich sitze rund / um mich selbst herum", schreibt der in Saudi-Arabien geborene jemenitische Dichter Galal Alahmadi. Es sind vor allem Gedichte, die uns auf engstem Raum die Tiefe eines Schmerzes nahebringen, der sich in prosaischen Worten kaum ausdrücken lässt. In seinem Gedicht "Koffer" schreibt der syrische Dichter Fady Jomar: "Koffer sind ursprünglich Handflächen, viel zu klein, / und Schultern, viel zu schwach für all die Sorgen. / In den Koffern stecken Gesichter, / Salz, Geduld und verworrene Stimmen, / Gedränge, Geschichten und Menschen. / Sie haben kein Wort / für unbeschwert. / Die Koffer sind Mutter, / Olivenöl, Thymian und Brot, / Hefte voller Träume. / Je größer die Koffer, desto älter werden wir. / Egal, wie weit wir verstreut sind, die Koffer sind unser / Halt, der Ort, an dem wir uns sammeln. (...) Wir, die geflohen sind, / oder glaubten, wir könnten es, / fliehen vor dem Wort in ein Meer von Schweigen. / Wir, die wir Angst haben vor dem Grab, / tragen Koffer darin unseren Sarg. / Wir suchen den freien Raum, / wollen ihn lieben und fliegen. / Doch die Koffer sind groß und schwer geworden, / sind uns Gefängnis und Haus."
An der Übersetzung dieses Gedichts haben fünf Übersetzerinnen und Übersetzer mitgewirkt. Die Kraftanstrengung, die es bedeutet, sich in einem Land, dessen Sprache man nicht spricht, in einem existenziellen Sinn verständlich zu machen, lässt sich nur ansatzweise ermessen. Man kann nur hoffen, dass die Vermittlungsarbeit von Projekten wie denen, die diese drei Sammelbände entstehen ließen, nicht nur denen hilft, die gefördert werden, sondern auch einen Verständnishorizont eröffnet, der den Alltag vieler verändern wird.
Katja Huber, Silke Kleemann, Fridolin Schley (Hg.): Wir sind hier. Geschichten über das Ankommen. Allitera Verlag, München 2018. 224 Seiten, 16,90 Euro.
Ulrich Schreiber, Mira Soldo (Hg.): Ankunft. Literarische Reportagen geflüchteter Autorinnen und Autoren. Verlag Hans Schiler, Berlin/Tübingen 2018. 104 Seiten, 14 Euro.
Annika Reich, Lina Muzur (Hg.): Das Herz verlässt keinen Ort, an dem es hängt. Weiter Schreiben - Literarische Begegnungen mit Autorinnen und Autoren aus Krisengebieten. Ullstein Verlag, Berlin 2018. 272 Seiten, 24 Euro.