"Der Spiegel" wird 60:Ein Riesenspielzeug

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Unverzichtbar wie der Sonntagsbraten oder der Italiener um die Ecke - aber kein Blatt der jugendlichen Helden: Vom sanften Altern des sechzigjährigen "Spiegel".

Klaus Harpprecht

Muss "Der Spiegel" sein? Aber ja doch. Der bundesdeutsche Alltag ist ohne das Montagsheft so wenig zu denken wie ohne den Braten am Sonntag und den Italiener um die Ecke. Kurzum: Das Blatt ist eine Institution. Das, weil in der Publizistik eher selten, verlangt eine respektvolle Gratulation.

Frappierende Detailversessenheit, mit schmissigen Anekdoten garniert: "Spiegel"-Chefredakteur Stefan Aust.. (Foto: Foto: dpa)

"Der Spiegel" ist in die Jahre gekommen, die man früher die gesetzten nannte. Wie die Bürger, die ihn als eine Gewohnheit betrachten, kann er sanftes Altern mit nettem Embonpoint nicht völlig verbergen, obschon Stefan Aust, der alerte aktuelle Chef, auch als Redaktionsrittmeister gern einen schneidig-sehnig-schlanken Stil vorexerziert.

Die abgedroschene Augstein-Urmetapher vom "Sturmgeschütz der Demokratie" ist ihm vermutlich zu klotzig. Er kommandiert lieber die leichte Kavallerie der Republik (was Werdegang und Neigung eher entspräche), von Brennpunkt zu Brennpunkt preschend. Doch niederdeutsche Kaltblüter lassen sich, schwer und solide wie sie sind, nicht ohne Schwierigkeit in Husaren- und Ulanenpferdchen verwandeln.

Rudolf Augstein, der Gründervater, war in seinen spirrigen Anfangsjahren - noch kaum geneigt, den Journalismus als eine noblere und halbwegs amüsante Branche des Showbizz zu betrachten, obschon von der Lust am Spiel besessen, zeitlebens. Mit dem Riesenspielzeug, das ihm die britischen Presseoffiziere im Hungerwinter 46/47 mit der Lizenz für ein Nachrichtenmagazin überlassen hatten, wollte er Politik machen: Wissen ist Macht; das schwarz auf weiß gedruckte Wissen aber ist mobilisierte Macht.

Mit Folgen. Meist für die anderen. Einmal, auf die bitterste Weise, auch für ihn: als ihn die "Spiegel"-Affaire 1962 in den Kerker verbannte, aus dem er als Sieger entlassen wurde. Die Meinungsfreiheit und mit ihr der Rechtsstaat triumphierten über die Exekutive. Der Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß, ein verludertes Großtalent der deutschen Politik, wurde in die Wüste geschickt, die Presse war als "vierte Macht" im Staate etabliert. Grandiose Etappe auf dem Weg der Bundesrepublik zur demokratischen Normalisierung - und das Ende von Adenauers patriarchalischer Autorität, die zunächst ein Segen für das physisch und moralisch erschöpfte Volk gewesen ist. Trotz Globke.

Kerndeutscher Augstein

Übrigens hatte jede Partei und jede Redaktion ihre Globkes, auch der "Spiegel" (was wir damals nicht ahnten), Experten aus den SD-Stäben Heydrichs. Dennoch: Dies war die Stunde des Liberalen Augstein, vielmehr: des National-Liberalen, der sich niemals aus den Befangenheiten des Bismarckisch-kleindeutsch-großpreußischen Nationalstaates gelöst hat.

Europa interessierte Augstein nicht. Frankreich hat er in Wahrheit verachtet. Amerika blieb ihm fremd - wie die Sowjetunion auch (doch beide verwahrten die Schlüssel zur sogenannten deutschen Einheit). Das "Ausland" war stets die schwächste Sektion seines Blattes. Augstein, ein Kerndeutscher. Ein Nurdeutscher. Sein Gemüt eher schwarz-weiß-rot als schwarz-rot-gold grundiert. Insofern hinter der Zeit.

Im Bonner Bundestag fühlte er sich - bei der kurzen Gastrolle als freidemokratischer MdB - zurecht deplaziert: ein Rädchen unter vielen. Die großen Räder Otto Graf Lambsdorff oder Eugen Gerstenmeier ließ er dafür büßen. Dem Parlamentspräsidenten - ein Mann des Widerstandes und (trotz seiner Macken) ein großer Demokrat, der als Gründer des Evangelischen Hilfswerkes Hunderttausenden das Leben gerettet hat - ließ er seine Redakteure noch ins Grab pissen.

Allianz mit Schirrmachers Sympathie-Imperium

Ein Gewissen machte er sich sowenig daraus wie an der Mitwirkung bei der Demontage Willy Brandts. Zu Gut und Böse unterhielt er das unschuldige Verhältnis eines Kindergemütes. Seine Kolumnen - die besten funkelten vor Witz - gewannen damit ihre natürliche Schärfe. Er war musikalisch. Also konnte er schreiben.

Der vorläufige Erbe am Chefschreibtisch verzichtet, klug wie er ist, auf die posthume Konkurrenz. Er politisierte - wie viele Ex-Linke - das Blatt durch eine sacht-smarte Entpolitisierung nach rechts, was für die Auflage bekömmlich ist. Grundhaltung: Opposition, gleichviel, wer regiert. Ein vernünftiges, wenngleich monotones Prinzip. Meinungen: viele oder keine. Technik: frappierende Detailversessenheit, mit schmissigen Anekdoten garniert, die "großen Linien" dekorieren die Texte wie die eleganten Charts der PR-Industrie. Effekt: Der Leser glaubt sich informiert.

Sein Wohlgefühl wird gefördert von der Grundharmonie, die neuerdings den "Spiegel" mit der FAZ und dem Springer-Verlag innig verbindet: Frank Schirrmachers Sympathie-Imperium, das sich bei den Großinszenierungen von Günter Grass' später Selbstentblößung und Joachim Fests Wagnerischem Weihetod so eindrucksvoll dargestellt hat. Nein, der "Spiegel" ist nicht länger ein hassens- oder liebenswertes, vor allem singuläres Monster, sonderlich brüderlich mit der "Frankfurter Allgemeinen" und der "Bild"-Zeitung alliiert: Das lockert die Spannung und mindert die Sucht (die noch immer das Ziel der Bindung zwischen Leser und Blatt ist).

Klar muss es den "Spiegel" geben (bis er hundert Jahre alt wird). Aber muss man ihn auch lesen? Man kann. Mal ja, mal nein. Das ist heutzutage schon viel.

Klaus Harpprecht, 79, Journalist und Buchautor, war Washington-Korrespondent des ZDF und von 1972 bis 1974 Redenschreiber des Bundeskanzlers Willy Brandt. Er lebt in La Croix-Valmer/Frankreich.

© SZ v. 4.1.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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