Der Klimabaum:Dass ich eins und doppelt bin

Lesezeit: 2 min

Goethes "Ginkgo biloba" machte den exotischen Baum neben den einheimischen Arten heimisch in der Poesie und im Leben populär.

Von Marion Poschmann

Der "Ginkgo biloba" ist eins der erstaunlichsten Stücke des Divan. Nicht nur, dass Goethe hier einen exotischen Baum wie selbstverständlich neben die einheimischen Arten stellt, er überträgt auch ein amouröses, spirituelles und poetologisches Symbolfeld in die deutsche Literatur. Unter den berühmten Bäumen der lyrischen Tradition, Brockes Kirschbaum, Hölderlins Eiche, Müllers Linde, Mörikes Buche, kann Goethes Ginkgo als ausgesprochenes Wagnis gelten. Ein Prinzip des Divan, Motive zu präsentieren, die dem Leser in der Regel nicht geläufig sind, zu denen er noch kein inneres Verhältnis aufgebaut hat, zeigt sich am Ginkgo besonders eindrücklich. Das Gedicht führt dem Leser eine Baumart vor Augen, von der es in Europa vor 200 Jahren erst wenige Exemplare in privaten Gärten gab.

Das charakteristisch geteilte Blatt, Marianne von Willemer als Freundschaftspfand zugesandt, ist für Goethe ein Sinnbild östlicher Weisheit und symbolisiert im Gedicht das paradoxe Verhältnis von Individualität und Zweisamkeit, Einheit und Vielheit, das Aufgehen im anderen.

Zugleich zeigt es, wie das poetische Verfahren des Reims funktioniert, das Goethe im Divan mit meisterhafter Leichthändigkeit auf die Spitze treibt: Das Fazit des Liebenden, "daß ich eins und doppelt bin", findet sein Echo in einer Fülle von reichen und klingenden Reimen, Doppelreimen oder auch Augenreimen, die das Spiel des Einen und des Paares aufnehmen. Goethes Absicht war es, das persische Ghasel formal ins Deutsche zu übertragen, aber eine andere Lösung dafür zu finden, dass es beim Ghasel oft nur ein einziges Reimwort gibt, das sich ständig wiederholt.

Reime wie "Erzklang - Herz bang" durchziehen den "Divan"

Durch die Fülle von besonders ähnlichen oder mehrsilbigen Reimwörtern wie "Regenwand - Bogenrand", "-taulich - traulich" oder "Erzklang - Herz bang", mit äquivoken und identischen Reimen wie "Gerechte - das Rechte", die den "Divan" durchziehen, entsteht ein starker Effekt des Gleichklangs, ohne im Deutschen zu redundant zu wirken. Damit gelingt es dem weltoffenen Dichter, sich nicht nur eine als sperrig empfundene lyrische Form elegant anzueignen, sondern auch völlig neue Bilder wie hier den Ginkgo zu etwas Eingängigem und Wiedererkennbaren zu machen.

So wie Goethes "Divan" den Osten in den Westen bringt, hat das Gedicht "Ginkgo biloba" zur Verbreitung des orientalischen Schmuckbaums maßgeblich beigetragen, und auch Goethe selbst hat ihn anpflanzen lassen. Heute gilt der Ginkgo aufgrund seiner enormen Widerstandskraft als idealer Stadt- und Straßenbaum, einmal abgesehen vom strengen Geruch der Früchte. Steigende Wärmebelastung, Luftverschmutzung, Tausalz und Trockenheit machen ihm kaum etwas aus.

Ganz aktuell ist der Ginkgo als "Klimabaum" im Gespräch, da er auch längere Dürreperioden, Überschwemmungen und andere Wetterextreme relativ erfolgreich übersteht. Goethe also als Klimapionier? Werden wir demnächst in Ginkgowäldern wandeln?

Aktuell ist der Ginkgo als "Klimabaum" im Gespräch

Im Hinblick auf das ökologische Gleichgewicht wird der Ginkgo nicht uneingeschränkt empfohlen. Er ist so umfassend resistent, dass Insekten nicht auf ihm leben können. Daher wird es im Bereich der Landschaftsgestaltung vermutlich nicht zu Aufforstungen im größeren Maßstab kommen, sondern bei der markanten Schönheit von Solitärbäumen und Alleen, bei der Formel "eins und doppelt" bleiben.

© SZ vom 28.08.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: