Leben!Leben!Leben! Das ist der Beat des dicksten Debüts der Saison, auch wenn an der Oberfläche die Ratio dirigiert. Philipp Weiss, Wiener Theaterautor und Romandebütant, ist sympathischerweise ein Emphatiker, dessen Herz für das Wissen, die Kunst und das philosophische Denken schlägt. So viel ist schnell klar, wenn man zwei bis drei Blicke in die drei kompakten und zwei schmalen Hefte wirft, die er unter dem starken, schön nietzeanisch-vitalen Titel "Am Weltenrand sitzt der Mensch und lacht" in den Schuber hat schieben lassen.
Moment, ein Schuber für einen mehrbändigen Debütroman? Yes, Sir, der Verlag hatte die Spendierhosen an. Ein Schuber ist teuer, weil es noch keine Maschinen gibt, die einzelne Bände in Schuber schieben können, das müssen Menschen machen. Kostspielig dürfte auch die Arbeit von Pauline Altmann gewesen sein, der preisgekrönten Berliner Buchgestalterin, die man sofort wieder auszeichnen muss, weil es meisterhaft ist, wie sie mit den unterschiedlichen Typografien und all den kreiselnden, Seiten überspannenden, Bilder umfließenden, mal sich vergrößernden, mal verblassenden Zeilen, den handschriftlichen Einschüben, der individuellen Anpassung von Seitenrändern auf eine Weise umgeht, die Laurence Sterne vor Neid zappeln lassen würde.
Die fünf Hefte, aus denen dieser Roman besteht, kann man in beliebiger Reihenfolge lesen
Billig sind an diesem Buch jedenfalls nur das herrlich offene Papier und die einfache Klebebindung, die für die angenehme Haptik und den Gebrauchsbuchgeruch sorgen, ganz im Manufactum-Trend, der ja auch für das, was da auf den Seiten steht, eine Rolle spielt. Nun musste man als Kritikerin aber erst einmal mit den Fahnen vorliebnehmen und bekam das gedruckte Buch spät in die Hände. Das hat einen wichtigen Effekt: Man verfällt nicht dem Sinnenrausch, sondern ist ganz nüchtern mit dem puren Text konfrontiert.
Die fünf Hefte kann man in beliebiger Reihenfolge lesen. Das petrolfarbene Heft ist eine fiktive Autobiografie in Form einer Enzyklopädie. Die fiktive Autorin: Paulette Blanchard, Verwandtschaften mit dem Klang des Namens eines berühmten französischen Denkers dürften durchaus beabsichtigt sein. Der Gedanke drängt sich erst recht auf, wenn man zu einem zweiten dicken, dem schwarzen Heft greift, dem siebten "Cahier" von Chantal Blanchard aus dem Jahr 2010/2011, der ebenfalls fiktiven Urenkelin ebenjener Paulette, die sich 1870 den Kämpfern für die Dritte Republik anschließt, die Weltausstellung in Wien besucht und nach Japan heiratet, um sich schließlich auf den Spuren der ersten Menschen zu verlieren.
Chantal versucht auf andere Weise als ihre Urgroßmutter Ordnung ins Leben zu bringen. Während die vorwitzige Paulette ihre Autobiografie in eine enzyklopädische Ordnung zu bringen versucht (und man lese bitte "Die Ordnung der Dinge" von Michel Foucault oder Ann Cottens Buch über Listen, um etwas von den die Ordnung unterlaufenden und dem Zufall die Türen öffnenden Tücken einer Enzyklopädie zu erahnen), vertraut Chantal dem Fragment, der Notiz, dem automatischen Schreiben, dem Wahnsinn. Dabei ist sie auf der Suche nach der Weltformel, dem Algorithmus der totalen Kontrolle über Klima, Liebe und das Ich. Eine Suche, die auf das Verschwinden, die große Null, das weiße Blatt hinausläuft.
Ein drittes, lavendelfarbenes Heft heißt "Terrain vague". Diese Erzählung stammt von einer weiteren Figur, von Jona Jonas, dem jungen Geliebten von Chantal, einem Menschen mit uneindeutigem Geschlecht und Familienspuren, die nach Theresienstadt führen. Er begibt sich auf die Suche nach seiner Geliebten und reist bis nach Japan, wo er 2011 das Erdbeben erlebt, das die Katastrophe von Fukushima auslöst. Jona ist Fotograf und arbeitet - offensichtlich angelehnt an Thomas Demand - unter anderem (Achtung: Poetologie!) an Kunstprojekten, die "Weltrissminiaturen" und "Imaginäre Landschaften" heißen und für die er mit Originalmaterialien von Orten wie Prypjat/Tschernobyl arbeitet. Chantal sei das zu "sophisticated" gewesen. Mit "Terrain vague" befinden wir uns also auf unklarem Gelände, aber in guter künstlerischer und philosophischer Gesellschaft.
Jona wiederum begegnet Abra in Japan, deren Autorschaft ein Manga-Comic untergeschoben wird, gezeichnet von Raffalea Schöbitz und getextet und erdacht von Philipp Weiss. Abra ist ein Cyborg und durch einen Autounfall traumatisiert, sie arbeitet als Stripperin und driftet hinter die Spiegel, wo Menschen an ihren Ursprung, zum reinen Geist zurückgeführt werden. Die Atmosphäre erinnert ein bisschen an die Netflix-Serie "The Expansion" und also an die ästhetische Tradition, die mit "Blade Runner" einsetzte. Und schließlich ist da noch der Junge Akio. Akios Form im apricotfarbenen Heft Nummer fünf ist das Transkript, er bespricht Tonbänder und versichert sich so, dass es ihn noch gibt.
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Philipp Weiss hat in einem Interview, das der Verlag dem Schuber beigelegt hat, aufgezählt, was seine Absicht war beim Schreiben: der Entgrenzung und dem Kontrollverlust eine Form zu geben, von Verlust und Aufbruch zu erzählen, nach der Zukunft zu fragen, Japan als Komplement und Projektionsfläche des Westens zu zeigen, die Frage, woher wir kommen und wohin wir gehen zu erforschen, das lineare Narrativ durch einen symbolischen Hyperraum zu ersetzen, und die Utopie der Ordnung und Totalität ins rechte Licht zu bringen. Und um all diese Themen habe er eine Klammer spannen wollen: die fünf "Aggregatzustände" des Ich als Geschichte vom Aufstieg und Ende des Individuums. Oder, ganz bescheiden: Das Ganze sei bloß das Lebens-Resümee eines Dreißigjährigen. Man könnte auch denken, der gute Mann hat Schwierigkeiten, sich zu entscheiden.
Es ist also eigentlich wirklich alles drin, in diesen fünf Heften. Nur eines nicht: der gute Satz. Auf insgesamt rund 1041 Seiten findet sich kein Satz, den man einrahmen und über den Schreibtisch hängen möchte. Kein Satz, der einen ins Mark trifft und ein Leben oder wenigstens ein paar Tage lang begleitet, der einen die Welt plötzlich erkennen, und der den eigenen Stand darin zugleich fragwürdig und sicherer werden lässt. Ein Satz, für den es sich zu lesen lohnt. Ein Satz, der einem erzählt, was man noch nicht wusste oder immer wusste, aber noch nie so formulieren konnte.
Den hohen Ton der behaupteten Plötzlichkeit zu treffen, das gelingt hier nicht
Wozu all dieser dramaturgische, gestalterische und Rechercheaufwand, wenn nicht ein einziger Satz dieser Qualität auf diesen Seiten steht? Paulette schreibt: "Wenn man den unermesslichen Stoff eines Menschenlebens überblickt, erkennt man deutlich nur eines: nämlich dass er sich keinesfalls in einer einzigen Enzyklopädie finden kann." - Eine Banalität, und man wird in ihrer auch im Ton vollkommen unglaubwürdig historisierenden Enzyklopädie keinen Satz finden, der einen weiteren Horizont hat. Das soll wohl so sein, sowohl die Anti-Authentizität als auch die Banalität, aber wozu dann das alles? Wozu, wenn selbst das "Experiment", die scheinsubjektive Form des Tagebuchs mit der scheinobjektiven Form der Enzyklopädie zu verschränken, nichts anderes als Pseudo-Avantgarde ist?
Bei Jona steht ein Satz von Abra, die neben Chantal und Paulette für eine dritte, die vollkommen ungezügelte Variante des euphorischen Sprechens steht: "Weißt du, was du bist? Nein? ... Amour fou! Große Kunst!" Aber den hohen Ton der behaupteten Plötzlichkeit zu treffen und das Schweigen zu schreiben, von dem ständig die Rede ist, gelingt Jona nicht. Dabei ist er doch zutiefst erschüttert und der Stille im Auge des Orkans stets zu nah. "Wie steht man, wenn der Boden nicht trägt?", fragt er auf den Spuren seiner Ur-Angst, die ihm das Gehör geraubt hat, aber trotzdem leider nach Papier schmeckt und einem weder nahegeht noch durch Distanz zu neuen Erkenntnissen bringt. Und ein Erkenntnisinstrument soll dieses Projekt doch sein.
Man hat das Gefühl, es mit dem Modell einer Kulisse aus Papier zu tun zu haben
Geschwätzig ist auch Chantal, die das Buch ihrer Urgroßmutter "sentimentalen, humanistischen Kitsch" nennt und damit also erstens anzeigt, dass das Subjekt seinen Zenit überschritten hat und zweitens, dass der Autor weiß, was er tut. Chantal ruft die Menschheit ob ihrer Verkommenheit zur Selbstauslöschung auf und spricht ihren Monolog übrigens zu einem Knochen. Von ihr liest man schmissige Sätze wie: "Nichts brachte mehr Kreativität in die Welt als die Grausamkeit." Oder: "Alle Menschen sind klein." "Und weiter wirbelt das Kunstwerk," steht auch in Chantals Notizen, die mit Ernst Haeckel den Kunstformen der Natur huldigen, "bis es irgendwann, mit Formen übersättigt, zu schwer wird und hinunterstürzt auf die Erde."
Philipp Weiss ist ein angehender Theatermann, der es vielleicht schon gewohnt ist, anstelle von Substanz Impulse zu setzen, aus denen dann Substanzielles folgen kann, was ja auch in der Tat nicht wenig ist. Aber im Roman funktioniert das nicht wie auf dem Theater, so, wie es immer wieder unbefriedigend ist, wenn Texte auf die Bühne gebracht werden, die nicht für die Bühne bestimmt sind. Die fünf Hefte arbeiten mit Effekten, erzeugen aber keine.
Liegt es an dieser Verwechslung, dass man bei diesem ambitionierten und auch mit Verve geschriebenen Debüt den Eindruck hat, es bereits mit dem Nachbau des nachgebauten Modells zu tun zu haben - des Modells einer Kulisse aus Papier? Dekorativen Schiebewänden? Einem Text, dessen Autor sich nicht wirklich für seine Figuren interessiert, der auch keine Leerstellen produziert oder eben "gute" Sätze. Ist diese Leichtfertigkeit im Umgang mit der Romanform der Grund, dass man bei der Lektüre von Paulettes plappernden Ausführungen sehnsüchtig an die genaue Spracharbeit von Angela Steidele denkt, die in ihrem Roman "Rosenstengel" die Sprachen des 18. und 19. Jahrhunderts zum Leben erweckt und sich auf eine sehr viel kritischere, angemessen gründliche Weise mit der brutalen Geschichte der Medizin auseinandergesetzt hat, als Philipp Weiss es mit der flüchtigen Bemerkung zur "Ovarienpresse" tut? Und dass man bei den Exkursen zur Entstehung der Welt und des Menschen, die bei Chantal wie eine Art oberflächlicher Science Slam in den Fachgebieten der Astrophysik und Paläoanthropologie wirken, lieber zu Raoul Schrotts wahnwitzigem "Erste Erde Epos" greifen möchte oder eben, wenn es um die Veranschaulichung von Wissen geht, gleich zur BBC-Serie "Unser Kosmos"?
"Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen" eignet sich sehr gut, um zu diskutieren, wie aus einem Text Literatur wird - oder eben auch nicht. Man kann diese Frage an Stellen diskutieren, die plötzlich diese Stille erzeugen, die man bei Jona meistens vermisst. Wenn Philipp Weiss nämlich mal das große Ganze aus den Augen verliert und seinen Jona sich in einer kleinen, beiläufigen und wunderbaren Szene an einen Mann aus der Menge hängen lässt mit der Bemerkung, dieser sei in dem Moment das Vertrauteste, was er auf der Welt habe. Oder wenn er sehr charmant seinem kleinen Akio die Eigenschaft gibt, bei Aufregung am Hintern zu schwitzen.
Die Geschichten, die Philipp Weiss über Ich und Welt, Schönheit und Schrecken, Herkunft und Zukunft, Liebe und Leiden erfindet, sind gar nicht so schlecht. Nur leidet ihre Ausführung an einer angehäuften Fülle, die leer ist. Und wenn das der Witz sein soll, dann ist das Opfer an Lebenszeit, das in der Lektüre dafür erbracht werden muss, doch etwas viel verlangt. Vom Weltenrand, und das ist ja die Sehnsucht, die solche Schreibprojekte in der Regel treibt, stürzt man auf diese Weise nicht. Er kommt nicht einmal in Sichtweite.