Debatte:Wie weit ist es von der Insel zum Kontinent?

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Bedroht die Europäische Union das Schöne und Gute der Geschichte Großbritanniens? Englische Historiker streiten über den "Brexit", es wird dauern, bis die Nebel über dem Ärmelkanal sich lichten.

Von Alexander Menden

Sobald klar war, dass die Konservativen unter David Cameron die britische Unterhauswahl gewonnen hatten, kamen viele Fragen auf: Würde die neue Regierung das staatliche Gesundheitssystem noch weiter in die Privatisierung drängen? Wie viele Sozialleistungen würden ersatzlos gestrichen werden? Und würde der frisch gewählte Parlamentarier Boris Johnson sich neben seinem Job als Londoner Bürgermeister tatsächlich auch ab und zu im House of Commons blicken lassen?

Was aber sofort feststand, war, dass nun das von Cameron versprochene Referendum zur EU-Mitgliedschaft des Vereinigten Königreiches kommen würde. Die Debatte über den sogenannten "Brexit", die Dank der europaskeptischen UK Independence Party schon lange vor der Wahl zur Gretchenfrage reifte, wird nicht mehr im Konjunktiv geführt. Und wie immer, wenn in Großbritannien einem Argument besonderes Gewicht gegeben werden soll, ziehen die Kombattanten die vermeintliche historische Sonderrolle der Insel heran. Vor allem jene glauben die Geschichte auf ihrer Seite zu haben, die von fundamental veränderten Voraussetzungen der britischen EU-Mitgliedschaft oder gar einem kompletten Ausstieg aus dem europäischen Projekt nur Gutes erwarten.

Die "reichhaltige Materie unserer Geschichte" sehen die "Historians for Britain" durch die EU bedroht

Eine Gruppe von Historikern, die sich "Historians for Britain" nennt, machte erstmals im Oktober 2014 von sich reden, als sie in einem offenen Brief an die Times ein "loseres, freieres Verhältnis zu EU" forderte. Von dem Brief existiert mittlerweile eine Online-Version, erweitert um neue Unterzeichner. Von der Aufmachung her - weiß auf schwarz, ohne Absätze und ganz in Großbuchstaben gesetzt - erinnert der Brief an die Online-Präsenzen von Verschwörungstheoretikern. Großbritannien habe Traditionen und Gewohnheiten entwickelt, die "unseren Gestaden eigen" seien, behauptet das Dokument. Diese - darunter parlamentarische Souveränität und der Kampf um immer mehr Demokratie und Fairness - formten die "reichhaltige Materie unserer Geschichte" und seien durch die Bedingungen der britischen EU-Mitgliedschaft bedroht. Neue Steuern schädigten britische Wirtschaftsinteressen, die "brutale Realität" der europäischen Wirtschaftspolitik habe "am Mittelmeer" Leben zerstört und Extremismus Nahrung gegeben (ein kaum verhohlener Seitenhieb auf die griechische Euro-Misere).

In seinen Forderungen gibt das Manifest mehr oder minder die Haltung jener Hinterbänkler in David Camerons eigener Partei wieder, die zwar nicht so kompromisslos wie Ukip auf einen EU-Ausstieg drängen, aber auf den Primat nationaler Institutionen gegenüber Brüssel pochen. Die EU habe sich "über mehrere Jahrzehnte hinweg Macht und Befugnisse angemaßt, die nur den Regierungen jener Staaten zustehen sollten, aus denen die Union besteht". "Niemand", so das Dokument, "hat das 'Europäische Projekt' adäquat erklärt, das die Politiker und Bürokraten, die eine 'immer engere Gemeinschaft' befürworten, den Mitgliedsstaaten aufzwingen wollen. Dies ist unakzeptabel."

Immerhin, mahnen die Unterzeichner, sei Großbritannien im Laufe der Jahrhunderte diversen Allianzen beigetreten, habe die Mitgliedschaft angepasst und sie auch wieder verlassen, wenn sich die Voraussetzungen geändert hätten. Nun sei es an der Zeit, einen "besseren Deal" für das Land zu verhandeln und das Ergebnis dieser Verhandlungen dem britischen Volk in einem Referendum vorzulegen. Die 40 Unterzeichner betonen, dass sie politisch aus den verschiedensten Richtungen kommen. Doch erstens sind die "Historians for Britain" eine Unterabteilung des europakritischen Wirtschafts-Forums "Business for Britain", und zweitens verrät ein Blick auf die Unterzeichnerliste, dass ein nicht geringer Teil von ihnen den Tories nahesteht. Der schillernde Fernseh-Historiker David Starkey etwa ist Mitglied der konservativen Partei (wenn auch mit wenig Respekt für Cameron, den er für planlos hält); Lord Alisdair Lexden ist der offizielle Historiker der Tories.

David Abulafia, der in Cambridge lehrt und eine Art Sprecher der Gruppe ist, hat im Magazin History Today behauptet, Großbritannien sei etwas Besonderes wegen seines "milderen politischen Klimas", das Extremismen jeder Art wie Faschismus, Kommunismus und Antisemitismus nie Nahrung geboten habe. Im Daily Telegraph hat Abulafia die europäische Integration zu einem Mythos erklärt, in einem Text, der betont, wie sehr die britische Debatte von Beglaubigungen durch die Vergangenheit lebt: "Es ist Zeit, zuzugeben, dass ein Gefühl des ,Europäischseins' nicht weit zurückverfolgt werden kann. Europa ist nicht ein Mythos, sondern viele Mythen, fußend auf einer Idealisierung der klassischen Vergangenheit und auf Fantasien über Figuren wie Karl den Großen." Sprich: Was nicht tief in der Geschichte wurzelt, kann auch keine Zukunft haben.

Das alles klingt wie Sehnsucht nach "Splendid Isolation". Nicht umsonst zitiert Abulafia eine Schlagzeile, die so zwar nie in einer englischen Zeitung stand, das insulare "wir hier, die andern dort"-Gefühl aber prägnant zusammenfasst: "Nebel über dem Ärmelkanal, Kontinent abgeschnitten." Diese Haltung führt bei Politikern wie Akademikern zu Analysen, die profund sein können, aber oft in einem Vakuum entstehen, wie John Nugée vom Think-Tank Chatham House es richtig erkannt hat: "Nicht genug damit", so Nugée, "sie sind auch fest davon überzeugt, immer recht zu haben, und wissen nicht, wie sie mit Menschen interagieren sollen, die nicht mit ihnen übereinstimmen."

Auch in England mussten Demokratie und Fairness erstritten werden

Es mag Kontinentaleuropäern, die Großbritannien gerne weiter in der EU sähen, ein Trost sein, dass sich nun eine deutlich größere Gruppe britischer Historiker zu Wort meldet und die Argumentation der "Historians for Britain" für "gründlich überholt" erklärt. In einer eigenen Erklärung in History Today stellen die 248 Unterzeichner klar, dass die britische Geschichte keineswegs so einzigartig ist wie von Abulafia behauptet: Parlamentarische Souveränität habe auch auf der Insel erst im späten 17. Jahrhundert Form angenommen, hervorgegangen aus blutigen Revolutionen in Schottland und England. Auch Demokratie und Fairness seien, wie in anderen Ländern, erst Stück für Stück erstritten worden. Und wenn der Antisemitismus auch nie so tief verwurzelt gewesen sei wie in Nazi-Deutschland, so gebe es doch eine unrühmliche Tradition: Immerhin sei Edward I. der erste europäische Herrscher gewesen, der die Juden ganz aus seinem Reich verbannte - sie durften dreieinhalb Jahrhunderte lang nicht zurückkehren.

"Das politische, soziale, kulturelle und wirtschaftliche Leben Britanniens", so der Text, "hat immer von Europa abgehangen, sich darauf bezogen und Europa etwas zurückgegeben." Die "Historians for Britain" präsentierten nur die Ergebnisse ihrer eigenen Voreingenommenheit: "Die britische Vergangenheit - und dadurch auch die Zukunft - muss verstanden werden im Kontext einer komplexen, ungeordneten, aufregenden und vor allem kontinuierlichen Interaktion mit europäischen Nachbarn und dem Rest der Welt."

Dass in der britischen Politik in Jahrhunderten gedacht wird, liegt auch daran, dass Historiker sich hier nicht nur am politischen Diskurs beteiligen, sondern selbst Politik machen wollen. Ob sich dieser neueste britische Historikerstreit aber in irgendeiner Weise auf die Meinung der breiten Bevölkerung auswirkt, steht auf einem anderen Blatt.

© SZ vom 05.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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