Debatte über neue Kunstprojekte:Das Ende der Tabus

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Kunst darf alles. Doch jetzt gibt es zwei Grenzfälle: Ein Konzeptkünstler, der einen Freiwilligen sucht, der öffentlich sterben will. Eine Kunststudentin, die sich künstlich befruchten ließ, hat abgetrieben - das abgegangene Gewebe will sie in einer Ausstellung zeigen. Es bleibt mehr als ein schaler Nachgeschmack.

Andrian Kreye

Die Frage, was Kunst darf, ist längst beantwortet - alles. Sie darf in ihrer Ästhetik gefallen und begeistern; sie darf mit ihren Tabubrüchen provozieren und verstören.

"Kinderzimmer" von Gregor Schneider im Museum Franz Gertsch in Buirgdorf (Foto: Foto: AP)

Dabei gibt es eine klare Grenze für die Kunst: Wird die Ästhetik zum Selbstzweck, handelt es sich um Kitsch. Ob aber der Bruch von Tabus neue Freiräume für die Gesellschaft erobert oder ob dies lediglich dem Spektakel dient, ist längst nicht so eindeutig definiert.

Zwei aktuelle Grenzfälle zeigen dies. In Deutschland sucht der Konzeptkünstler Gregor Schneider einen Freiwilligen, der innerhalb eines Kunstprojektes öffentlich sterben will. In Amerika verkündet die Kunststudentin Aliza Shvarts, sie habe sich für ihre Abschlussarbeit an der Universität Yale mehrere Male künstlich befruchten lassen und dann mit Hilfe von Medikamenten abgetrieben.

Das angeblich abgegangene Blut und Gewebe will Shvarts in einer Ausstellung zeigen. Die beiden Künstler mischen sich mit ihren Projekten in Debatten ein, die den jeweiligen Kontinent polarisieren: Wie sterben wir würdig? Und wie gehen wir mit dem ungeborenen Leben um? Und doch hinterlassen die beiden Fälle einen schalen Nachgeschmack.

Die Kunst bewegt sich dabei heute in einem ganz anderen Umfeld als früher. Die Avantgarde des 20. Jahrhunderts musste sich noch neue Freiräume erobern, während die Kunst zu Beginn des 21. Jahrhunderts vor allem provoziert.

So bewegte sich Arnold Schönberg noch in einem Umfeld, das die Grenzen der Kunst und der Gesellschaft nach den engen Maßstäben des 19. Jahrhunderts festlegte, als er ab 1921 mit der Zwölftonmusik die bisherigen Hörgewohnheiten in Frage stellte. Das gleiche gilt für den Franzosen Marcel Duchamp, der Alltagsgegenstände zu Kunst erklärte und unter anderem ein Urinal zu einer Skulptur umfunktionierte.

Zu Beginn des 21. Jahrhundertes muss die Kunst keine solchen ästhetischen und gesellschaftlichen Grenzen mehr überwinden. Im Gegenteil. Kunst existiert heute in einer Medienlandschaft, die innerhalb kürzester Zeit jede neue Form der Avantgarde vereinnahmt, um damit die Reiz- und Hemmschwellen eines Massenpublikums zu erreichen.

Als der amerikanische Bildhauer Jeff Koons 1990 gemeinsam mit der italienischen Pornodarstellerin Ilona "Cicciolina" Staller Geschlechtsakte inszenierte, war das Medienecho längst der wichtigste Teil der Inszenierung.

Letztlich bedient sich die Provokationskunst nur der Show-Effekte. Die Künstler erobern damit keine neuen Freiräume, sondern schaffen nur Nervenkitzel. Wenn sich diese Nervenkitzel aus den Themen aktueller Diskurse bedienen, fordern sie keine Debatten ein.

Und sie wollen auch nicht zur gesellschaftlichen Weiterentwicklung beitragen. Stattdessen provozieren sie lediglich die kurzfristige Reaktion anderer heraus, vor allem von Politik und Medien.

Das bekannteste Beispiele sind die religiösen Provokationen, die die Kunst in den letzten Jahren hervorgebracht hat. So versah Chris Ofili bei der "Sensation"- Ausstellung 1999 in New York ein Madonnenbild mit Elefantendung und Pornoschnipseln; er lieferte damit lediglich das Material, mit dem Bürgermeister Rudy Giulianis anschließend den Kulturbetrieb attackierte.

Ähnlich erging es Hans Neuenfels, als er Mozarts Oper "Idomeneo" an der Deutschen Oper in Berlin inszenierte. Er krönte die Vorführung mit den abgeschlagenen Köpfen von vier großen Religionsstiftern, zu denen auch Mohammed zählte. Damit bediente Neuenfels lediglich eine reaktionäre Debatte über den Sinn des Theaters.

Während Aliza Shvarts in Yale ankündigt, den Ausfluss ihrer Fehlgeburten auszustellen, feiert in Deutschland die Fernsehmoderatorin Charlotte Roche mit den Fäkalphantasien ihres Buches "Feuchtgebiete" Erfolge.

Roche hat mit "Feuchtgebiete" das literarische Äquivalent zu jenem giftgrünen Spielzeugglibber namens "Slime" geliefert, den sich Volksschüler mit entzücktem Ekel gegenseitig auf die Schulbank klatschen.

Und während Gregor Schneider mit dem Moment des Todes die letzte Grenze der Kunst erobern will, kokettiert Popstar Madonna mit einem der letzten Tabus der Gesellschaft. "Hard Candy" heißt ihr neues Album, das diese Woche erscheint. Ihre deutsche Plattenfirma behauptet zwar, mit dem Titel spiele Madonna auf Süßigkeiten an, denn sie liebe Süßes.

Doch beherrscht kein Popstar die Kunst der Provokation so perfekt wie Madonna. Hard candy ist im amerikanischen Slang nämlich der Begriff für minderjährige Lustobjekte im Internet. Madonnas Flirt mit der Kinderpornographie schafft genau jenen Nervenkitzel, der eine konservative Reaktion herausfordert - und die entsprechenden Schlagzeilen.

Selbst wenn man den Provokationskünstlern ehrenwerte Absichten unterstellt, werden sie in einem Medienumfeld, in dem die gezielte Provokation längst zum PR-Konzept gehört, wenig erreichen. Abtreibungsgegner werden den Ekelfaktor in Shvartzs' Arbeit instrumentalisieren. Schneiders Projekt wird die Debatte um würdigen Tod und Sterbehilfe nur noch weiter polarisieren. Das aber begünstigt nur den gesellschaftlichen Rückschlag, niemals ihren Fortschritt.

© SZ vom 21.4.2008/lala - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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