Debatte:Ein Völkermord, der keiner sein soll

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2015 organisierte der Pianist Vardan Mamikonian weltweit Gedenkkonzerte für den armenischen Genozid.

Von Vardan Mamikonian

Ein kalter, nasser Tag in Paris, der 24. April. Im achten Arrondissement versammeln sich Hunderte Menschen um das Komitas-Denkmal. Noch ein Jahrestag. Der hundertunderste mittlerweile. 1915 - 2016. Der armenische Theologe und Musiker Komitas Vardapet überlebte den Genozid im Osmanischen Reich, verfiel aber in geistige Umnachtung.

Seit meiner Kindheit höre ich von diesem Genozid. Mein Großvater in Ghars (Türkisch: Kars) überlebte die Massaker dank eines türkischen Nachbarn. Der Nachbar versteckte ihn und seine Eltern, und als es an der Tür klopfte, sagte der Nachbar, er habe keine Ahnung von nichts. So überlebten mein Großvater Arutyun und seine Eltern. Später wanderten sie in die Armenische Sowjetrepublik aus. Diese Geschichte hörte ich als Kind mehrmals. Nur leider überlebten anderthalb Millionen andere Armenier eben nicht.

Ich bin im sowjetischen Jerewan aufgewachsen. In der Schule las ich Franz Werfels historischen Roman "Die vierzig Tage des Musa Dagh" und war erschüttert. Mein Großvater sagte, jeder Armenier müsse bei sich zu Hause ein Franz-Werfel-Porträt aufhängen. Als ich am Moskauer Konservatorium studierte, freundete ich mich mit dem deutschen Geiger Ulrich Edelmann an, wir haben seitdem mehrere Konzerte zusammen gespielt, er ist Konzertmeister im Sinfonieorchester des Hessischen Rundfunks. Es hat mich damals in Moskau überrascht, als er sagte, "Die vierzig Tage des Musa Dagh" kenne man auch in Deutschland. Nichtarmenier interessierten sich also für die armenische Geschichte, zumindest für dieses blutige Kapitel.

Noch mehr überrascht war ich bei meiner Ankunft in Frankreich, wo ich seit mehr als zwanzig Jahren lebe. Die Franzosen kennen sich in der armenischen Geschichte gut aus. Das liegt nicht zuletzt an Charles Aznavour, dessen Eltern vor dem Genozid fliehen mussten. Bei jedem Konzert, das ich spielte, kam jemand auf mich zu, vergewisserte sich, dass ich Armenier bin, und wir sprachen nicht nur über Musik, sondern auch über 1915.

Und das war noch bevor Frankreich den Genozid an den Armeniern anerkannte. Die Türkei war entrüstet, als das 2001 passierte, französische Flaggen wurden verbrannt, Straßen umbenannt. Aber die programmierte Aufregung flaute dann auch erstaunlich schnell wieder ab. Das Handelsvolumen zwischen der Türkei und Frankreich nahm sogar zu.

Wir spielten auch in Ländern, die den Genozid nicht anerkannt haben

Als der 100. Jahrestag nahte, hatte ich die Idee, weltweit hundert Gedenkkonzerte zu veranstalten. Daraus ist die Konzertreihe "100 concerts pour le centenaire" geworden, bei der viele Freunde und Kollegen mitmachten, auch bekannte Musiker wie Lorin Maazel, Jewgenij Kissin, Arabella Steinbacher. Wir spielten mehrere Jahre, in Dutzenden Ländern, auch in welchen, die den Genozid nicht anerkannt haben. Ich kann mir vorstellen, dass Recep T. Erdoğan nicht begeistert war, aber er griff nicht ein. Eher umgekehrt: Die Veranstalter trafen selbst ihre Maßnahmen, informierten im Voraus die Polizei, sogar in kleineren Städten wie Ingolstadt spürte man Anspannung. Damit hatte ich gerechnet.

Womit ich nicht gerechnet habe, ist, wie unverfroren Erdoğans Leute nun gegen das Projekt Aghet von Marc Sinan und den Dresdner Sinfoniker vorgehen. Nur weil Erdoğan über das Schicksal von Millionen Flüchtlingen mitentscheiden darf. Noch weniger habe ich mit der Haltung der Europäischen Kommission gerechnet. Der Herrscher der Türken kann es sich leisten zu sagen, die Anerkennung des Genozids durch den Papst oder durch das Europäische Parlament gehe bei ihm zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus. Er kann es sich leisten, einen Offenen Brief der Internationalen Vereinigung von Völkermordforschern zu ignorieren. Gut. Aber nun kann er es sich offenbar auch leisten, die Europäer in ihren eigenen Ländern albern erscheinen zu lassen.

Talat Pascha, der Hauptverantwortliche des Genozids, fand nach dem Ersten Weltkrieg Zuflucht in Berlin. Dort wurde er 1921 von einem armenischen Rachekommando erschossen. Ich schätze an Deutschland nicht nur, dass es die Heimat meiner Frau ist, sondern dass es heute zu seiner schrecklichen Vergangenheit steht. Anders als die Türkei. Deutschland, gerade Deutschland, muss der Türkei helfen. Die Franzosen oder die Engländer mit ihrer halb aufgearbeiteten Kolonialgeschichte taugen dazu weniger. Es reicht nicht, dass Fatih Akin, Cem Özdemir oder Marc Sinan die Dinge beim Namen nennen. Es müsste jemand mit Erdoğan ein längeres Gespräch führen, jemand, auf den er hört, und sei es nur, weil es für ihn sonst spürbare Folgen haben könnte.

Gibt es noch solche Menschen in Deutschland? Politik bedarf der moralischen Grundlage, sagte Helmut Schmidt, und diese Grundlage bröckelt gerade wieder mal gewaltig.

Aus dem Russischen von Tim Neshitov

© SZ vom 26.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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