Nein, dies muss keineswegs der Fall sein. Dass die Menschen in manchen muslimisch geprägten Ländern mit antisemitischer Propaganda indoktriniert werden, bedeutet noch lange nicht, dass sie alles für bare Münze nehmen, was man ihnen vorsetzt. Unter den interessiertesten Teilnehmern meiner Lehrveranstaltungen zur jüdischen Geschichte finden sich regelmäßig muslimische Studierende, darunter viele aus arabischen Ländern. Sie kommen auch, um manche Meinung, die ihnen in ihrer Heimat eingeprägt wurde, kritisch zu hinterfragen.
Eine Studentin aus Ägypten etwa hatte in Fernsehserien gehört, dass jüdische Ärzte Organe von palästinensischen Kindern stehlen und verkaufen. Ein Student aus Jordanien war sich unsicher, ob die Protokolle der Weisen von Zion wirklich existieren. Ein in Kuwait aufgewachsener Student erinnerte sich, wie er im Gymnasium dazu aufgefordert wurde, Israel aus den Landkarten auszuradieren. Sie alle lernen in einer neuen Umgebung auch andere Bilder jüdischer Geschichte und Gegenwart kennen. Nicht zuletzt erfahren sie davon, dass es in ihren eigenen Ländern und in Europa einst ein fruchtbares jüdisch-muslimisches Zusammenleben gab.
Deutschland muss seine Erfahrung auch den neuen Bürgern nahebringen
Ein solches auch für die Zukunft zu ermöglichen, kann nirgendwo besser gelingen als ausgerechnet in Deutschland. Das Land, in dem einst antijüdische Stereotype dominierten, gründet heute - trotz mancher gewiss bestehender Vorurteile - auf einer Gesellschaft, die sich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzt, sich ihres jüdischen Erbes annimmt und die Vermittlung von Wissen über das Judentum fördert.
Deutschland kann und muss seine Erfahrung mit einem langjährigen, aber erfolgreichen Prozess des Umdenkens in Bezug auf die jüdische Erfahrung auch seinen neuen Bürgern nahebringen. Sie erfolgreich zu integrieren, heißt nicht nur, ihnen ein Dach über dem Kopf zu bieten, sie finanziell zu unterstützen und ihnen Aussicht auf Arbeit zu geben, sondern auch, die Werte unserer Gesellschaft zu vermitteln. Mehr als irgendwo anders umfasst dies in Deutschland auch ein positives Verhältnis zum Judentum und die grundsätzliche Anerkennung der Existenz Israels, bei aller legitimen Kritik an seiner Politik.
Dem antijüdischen Stereotypen müssen neutrale Bilder entgegengesetzt werden
Die meisten der Flüchtlinge haben noch nie in ihrem Leben Juden gesehen. Und es ist gut möglich, dass sie auch in Deutschland, wo weniger als 0,2 Prozent der Bevölkerung der jüdischen Gemeinschaft angehören, nie auf welche stoßen werden. Doch den antijüdischen Stereotypen, mit denen sie in ihrer Heimat gefüttert wurden, müssen jetzt andere, neutrale Bilder entgegengesetzt werden. Das deutsche Bildungssystem steht vor einer neuen Herausforderung. Es müssen Fortbildungsprogramme für Lehrer geschaffen werden, ebenso wie Foren an den Universitäten, die sich auf eine neue Klientel einstellen. Dabei muss man durchaus differenziert auf die Umstände eingehen, die ihr ursprüngliches Bild vom Judentum geprägt haben.
Einfach ist all dies gewiss nicht. Aber Deutschland hat ohne Zweifel die Möglichkeiten dazu. Wenn es nicht gelingt, droht die jahrelange Auseinandersetzung mit der jüdischen Vergangenheit ebenso wie die Aussöhnung mit dem Staat Israel in Deutschland umsonst gewesen zu sein. Dem Zuzug muslimischer Flüchtlinge könnte in diesem Fall tatsächlich bald die Abwanderung deutsch-jüdischer Staatsbürger gegenüberstehen. Es steht aber in unserer Macht, dies zu verhindern und ein neues Modell jüdisch-muslimischer Koexistenz aufzubauen. Wo sonst, wenn nicht in Deutschland!