Dauerüberwachung in Großbritannien:Die spinnen, die Briten

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Ein Londoner wird am Tag von rund 300 Kameras gefilmt. Das scheint ihm nichts auszumachen. Wehe aber, es geht ein Brief mit seinen Daten verloren. Die britische Schizophrenie.

Alexander Menden

Wer in England einen Bekannten zum ersten Mal zu Hause besucht, sollte grundsätzlich rund 20 Minuten für die Lokalisierung des Hauses einplanen, auch dann, wenn er eine Straßenkarte mitführt. Engländer verstecken ihre Hausnummern gern hinter Efeu, schreiben sie winzig klein neben den Klingelknopf oder lassen sie gleich ganz weg.

Eine von vielen Überwachungskameras in London, die Stunde für Stunde aufpassen, dass niemandem die Identität gestohlen wird. (Foto: Foto: ap)

Als Antwort auf die Frage, warum Briten es Besuchern so schwer machen, bietet die Anthropologin Kate Fox die alte Weisheit "My home is my castle" an: Zwar könne man am Reihenhaus keine Zugbrücke hochziehen, aber zumindest könne man es möglichst schwer machen, das Haus zu finden, und somit die Privatsphäre ein wenig schützen. Das Eigenheim wird in England mehr als irgendwo sonst als eine Art exterritorialer Raum betrachtet, als unantastbarer Rückzugsort des Individuums, von dem die breitere Öffentlichkeit im Idealfall nicht einmal wissen soll, wo er sich befindet.

Wütend und verzweifelt

Umso größer war daher der Schock, als letzthin Schatzkanzler Alistair Darling im Parlament den wohl größten Datenschutzskandal der britischen Nachkriegsgeschichte gestehen musste. Ein Angestellter des Child benefit office im nordostenglischen Städtchen Washington hatte im Oktober der britischen Rechnungsbehörde zwei CDs zugesandt. Darauf befanden sich Namen, Geburtsdaten, Adressen, Sozialversicherungsnummern und Bankverbindungen von siebeneinhalb Millionen Familien, die in Großbritannien Kindergeld beziehen. Doch der Umschlag, der nicht einmal per Einschreiben geschickt worden war, hatte den Empfänger nie erreicht. Die CDs waren weder mit einem Sicherheitspasswort geschützt noch waren in der Kopie jene Informationen über 25 Millionen Menschen wie Sozialversichungs- und Kontonummern gelöscht worden. Und das, obwohl der Rechnungshof ausdrücklich darauf hingewiesen hatte, dass diese für die geplante Überprüfung nicht notwendig seien.

Simon Davies, Direktor der Menschenrechtsorganisation "Privacy International", sagt, er habe in den 17 Jahren, in denen er Verletzungen der bürgerlichen Privatsphäre nachgegangen sei, "niemals so viele Beschwerden zu einem einzigen Thema bekommen": "Die Menschen sind wütend und verzweifelt", so Davies. "Sie machen sich große Sorgen wegen der potentiellen Bedrohung für ihre Kinder." Man will die britische Regierung nun wegen fahrlässiger Verletzung der Sorgfaltspflicht verklagen.

Vom Diebstahl der Identität

"Privacy International" kämpft in Großbritannien an vielen Fronten. Die nichtstaatliche Organisation, die alljährlich den "Big Brother Award" für die massivste Verletzung der Privatsphäre vergibt, tritt unter anderem auch vehement gegen die Einführung einer Personalausweispflicht in Großbritannien ein. Bisher herrschte nur in den vierziger Jahren kriegsbedingt kurzzeitig eine allgemeine Ausweispflicht auf der Insel; heute stellt die Weigerung, sich auszuweisen, nach britischem Recht kein Vergehen dar.

Seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 hat die Labour-Regierung immer wieder Vorstöße versucht, biometrische Ausweise für alle Briten verbindlich zu machen. Die darin enthaltenen Informationen sollen in einer zentralen Datenbank gebündelt werden. "Privacy International" kann sich beim Kampf gegen diese Datenerfassung der Unterstützung der meisten Engländer gewiss sein. Da schon das Konzept eines Ausweises vielen ein Graus ist, war die Reaktion nach Alistair Darlings Erklärung zum Kindergeld-Datendebakel erwartbar: "Und denen sollen wir jetzt unsere biometrischen Daten anvertrauen?"

Dabei würde der Ausweis ein in Großbritannien weit verbreitetes, in Ländern mit Ausweispflicht hingegen nahezu unbekanntes Verbrechen sehr erschweren: den sogenannten "Identitätsdiebstahl". Derzeit genügt als Identitätsnachweis der Briefkopf einer Strom- oder Gasrechnung, nach deren Vorlage man Konten eröffnen, Mitglied im Fitnessclub werden oder sein Kind bei der Schule anmelden kann. In vielen Fällen führt eine achtlos ins Altpapier geworfene Rechnung beispielsweise dazu, dass dem Betroffenen einige Wochen später eine Mahnung ins Haus flattert, doch bitte die ausstehenden Gebühren für das neue Mobiltelefon zu begleichen, das von einem Identitätsdieb mithilfe der aus dem Müll entwendeten Rechnung angemeldet wurde.

Und doch scheinen viele Briten bereit, dieses Risiko in Kauf zu nehmen, solange garantiert ist, dass ihre Daten nicht in einem staatlichen Archiv erfasst sind. Sie könnten ja verloren gehen. Hier wird das geradezu schizophrene Verhältnis der Engländer zum Datenschutz deutlich: Denn nicht die Angst vor einem möglichen "Überwachungsstaat" ist in erster Linie der Grund für die Ablehnung der Ausweispflicht. Bisher werden Menschen, deren Identität missbraucht wurde, meist als Opfer ihrer eigenen Sorglosigkeit betrachtet. Sollten jedoch die Daten der Kindergeld-CDs missbraucht werden, würde dies nur die allgemeine Überzeugung bestätigen, dass der Staat unfähig ist, den Bürgern per Gesetz abgerungene Daten sicher zu verwahren.

Das meistüberwachte Volk der Welt

Aus deutscher Sicht ist dies besonders verwunderlich, da die Briten in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten klaglos zum meistüberwachten Volk der Welt avanciert sind: Rund fünf Millionen Überwachungskameras sind mittlerweile auf das Land verteilt. Damit kommt auf je zwölf Einwohner eine Kamera. Obwohl Großbritannien nur über 0,2 Prozent der bewohnbaren Landmasse der Welt verfügt, wird es von 20 Prozent aller Closed Circuit Television- oder CCTV-Kameras überwacht.

Ein Londoner, der seinen Geschäften im Stadtzentrum nachgeht, wird am Tag durchschnittlich von 300 verschiedenen Kameras gefilmt. Eine Abdeckung, angesichts derer die umstrittenen Vorschläge, deutsche Bahnhöfe stärker zu überwachen, nachgerade niedlich wirken. Allein im Stadtteil Westminster filmen 160 Kameras 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr alles, was zwischen Trafalgar Square und Oxford Street geschieht. Hinzu kommen etwa 1000 Kameras der Londoner Verkehrsbetriebe und eine nicht genau bezifferte Anzahl Kameras, die zur Erhebung der Innenstadtmaut das Nummernschild jedes Westminster durchfahrenden Autos aufzeichnen. Das CCTV-Kontrollzentrum am Piccadilly Circus ist als Gemeinnützige Einrichtung eingetragen und wird vom Westminster Council finanziert.

Der gütige Vater

Die Gemeinnützigkeit der Dauerüberwachung ist derart allgemein akzeptiert, dass "Privacy International" auf wenig öffentlichen Rückhalt hoffen darf, wenn es die "Orwellschen" Implikationen dieser Komplettabdeckung mit Überwachungskameras anprangert. Denn Tatsache ist, dass die Briten sich Erhebungen zufolge desto sicherer fühlen, je mehr CCTV-Geräte ihr Land spicken. "Die Leute sehen diese Kameras eher als eine Art gütigen Vater, nicht als Big Brother", sagt Peter Fry, Direktor der "CCTV User Group", eines Zusammenschlusses von rund 600 privaten und öffentlichen Organisationen, die CCTV nutzen.

Diesen Ruf erwarb sich das System im Jahr 1993, als der Mord am zweijährigen Jamie Bulger in Liverpool nur mithilfe der Kamera eines Shoppingcenters aufgeklärt werden konnte. Seither ist CCTV-Material auch bei Ermittlungen in publicityträchtigen Fällen wie dem mutmaßlichen Mord am Exilrussen Alexander Litwinenko und den Londoner U-Bahnanschlägen vom 7.Juli 2005 herangezogen worden.

So ziehen die Briten zu Hause weiterhin die virtuelle Zugbrücke hoch, während sie - unbelastet von Erfahrungen mit totalitären Systemen im eigenen Land - im public space nahezu blind den Bollwerken der Technik vertrauen. Sobald sie aus der Haustür treten, geben sie aus freien Stücken den absoluten Anspruch auf jene Privatsphäre auf, die ihnen in den eigenen vier Wänden als höchstes Gut gilt.

Als einzige plausible Erklärung für dieses paradoxe Verhalten erscheint die subjektive Gewissheit der Bürger, dass Dauerüberwachung öffentliche Sicherheit garantiert, vor Terroristen ebenso schützt wie vor Graffiti-Sprayern. Die beste aller Welten ist also in britischer Sicht aufgespalten in eine sichere, weil gänzlich unantastbare Privatsphäre und eine ebenso sichere, weil bis in den letzten Winkel beobachtete Öffentlichkeit.

© SZ vom 04.12.2007/rus - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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