Es ist das Jahr 1947. Vielleicht Frühjahr, vielleicht Herbst. Woher soll man das nach siebzig Jahren noch wissen? Vor allem wozu? Dina, neun Jahre alt, steht in der Schliemannstraße in Ostberlin. Sie ist nach der Schule wieder einen Nachmittag lang stromern gewesen. Schule ist langweilig, Freunde hat sie keine, nach Hause will sie nicht. Da ist eh niemand. Sie ist durch kaputte Straßen gelaufen und über Pfützen gesprungen. Die Kniestrümpfe sind nach unten gerutscht, natürlich hat sie Hunger. Es riecht nach Asche und Regen. Das hier ist der Versuch, mit dem Blick möglichst nah an der Pfützenspringerin zu bleiben, es jedenfalls zu versuchen. Ein Kriegskind, dürr, blond, blauäugig, Jahrgang 1938. Die ersten Jahre in Charlottenburg, dann Karolinenhof. Es sind die Häuser hinter Köpenick oder vor Grünau, je nachdem, wie man das betrachten will. Dinas Leben läuft nicht entlang gerader Blicke. Es sieht aus wie eine Krummgerade. Es hat den Bruch in sich, noch ehe es angefangen hat.
Das Mädchen zieht die Strümpfe hoch. Der Hunger beißt. Die Gedanken warten auf die Brüder. Mit Hermann, ein knappes Jahr älter als sie, saß Dina im Zwillingskinderwagen. In Karolinenhof, im kleinen Haus am See, teilten sich beide das Zimmer unterm Dach. War Fliegeralarm, zogen sie in den Bunker im Fichtenwald hinter der Siedlung. Später im Kinderheim der Nonnen war er ihr Beschützer. In einem zweiten Heim war er es auch. In der Erinnerung mit Hermann ist für Dina immer Sommer, aber der Bruder ist nicht bei ihr. Er ist beim Vater im Emsland oder schon wieder in einem Heim. Sie weiß es nicht genau. Das Leben ist eine Krummgerade. Es hat Buckel. Manchmal fühlt es sich an wie Gestrüpp. Dann ist es nicht leicht, seinen Faden zu finden.
Christian, der Jüngste, 1945 geboren, lebt bei einem Ehepaar in Fallingbostel. Das ist so, seit er ein halbes Jahr alt ist. Was der Vater und die Brüder jetzt wohl machen? Es dämmert, es wird kalt. Dina schielt nach dem Auto, das die Mutter längst aus dem Verlag bringen müsste, aber die Straße bleibt leer. Ihre Gedanken langweilen sich und trudeln zurück zum Karolinenhof. Wenn der Tag am See zu Ende ging, gab es für sie eine warme Badewanne und eine wacker singende Mutter: "Geh aus mein Herz und suche Freud".
Der Keller des Hauses war ein Zufluchtsort für verfolgte Jüdinnen und Juden in Berlin
Wenn die Sirenen für den Fliegeralarm erst nach Mitternacht Entwarnung gaben, durften die Kinder ausschlafen. Dann gab es schulfrei und die Erlaubnis, bei den nächtlichen "Küchenfesten" dabei zu sein.
Die "Küchenfeste" waren eine Institution der Mutter gegen die Alarmangst der Hausbewohner in der Rohrwallallee Nummer 73. Im kleinen Haus am See lebte während der Kriegszeit nicht nur Familie Kerckhoff. Der Keller des Hauses war auch ständiger Zufluchtsort für in Berlin verfolgte Jüdinnen und Juden. Bei Fliegeralarm mussten sie im Haus bleiben. Kamen die vier Kerckhoffs aus dem Bunker zurück, traf man sich am blank gescheuerten Tisch in der Küche. Es roch nach Kakao, Pfannkuchen und Apfelmus. Nach dem Essen die große Lagebesprechung.
Dina erinnert sich an den Geruch der Angst im Haus, an die flirrenden Augen der Kellerbewohner und an Zucker und Ei, eine Spezialität von Mary. Mary Levy mit den roten Haaren, die engste Freundin der Mutter. Mary Levy, die es nicht mehr gibt. Sie wurde 1943 nach Auschwitz deportiert und kam nicht wieder.
Das Mädchen mit dem Schulranzen ist müde und bummelt nach Hause. Vor der Brust baumelt sein Schlüssel. Dina drückt die Tür auf. Der Flur ist dunkel. Er riecht nach Urin und Trockengemüse. In der Küche stochert sie in einem alten Essen herum und geht ins Bett. Spät in der Nacht wird eine Tür klappen, weiß sie. Es wird einen flüchtigen Kuss der Mutter geben. Der wird nach Zigaretten, Wein und Lippenstift schmecken. Die Nervosität, die Anspannung, die Angst der kleinen, energischen Frau - nur 1,53 cm groß -, die es schon im Haus am See gegeben hatte, werden sich durch Dinas Träume atmen.
Beim Einschlafen denkt das Mädchen ans Einschlafen in Karolinenhof und an die verstörenden Mutter-Sätze. In ihnen ging es um Lager, um Not, um die jüdischen Freunde, die die Mutter von der Universität her kannte. Sie brauchten Pässe, Kleidung, Essen und ein gut organisiertes Rotationssystem. All die Menschen, die im Keller der Familie lebten, durften nur für kurze Zeit bleiben. Die Gefahr, denunziert zu werden und aufzufliegen, war da wie das Wetter.
Einschlafen ist nicht. Keine klappende Tür, keine Mutter. Dina liegt wach und hat plötzlich das Gefühl, wieder in dem verschwitzten Bett von Tante Käthe zu liegen. Wann das war? Am Mittwoch, vor einem halben Jahr? Es muss doch eben erst, vor ein paar Wochen gewesen sein. Die Zeit nach dem Krieg ist die Zeit der Schulwechsel, der Ortswechsel, der Bettenwechsel, des Austauschs der Freunde. Die alte Frau, erzählt man ihr, sei eine Verwandte und wohne auf dem Dorf. Da müsse Dina jetzt hin. Der Tantenkörper riecht säuerlich. Nachts liegt er neben dem Körper des Mädchens. Wie bloß schlafen? Aus der Schule bringt Dina Läuse ins Bett. Die wohnen auf ihrem Kopf. Tante Käthe setzt ihr eine Wollmütze auf und verlangt, dass sie die Tag und Nacht aufhaben müsse. Was sollen die Leute sonst denken? Die Kleine beißt die Zähne zusammen. Durchhalten kann sie. Sie schafft das so lange, bis die Tiere drauf und dran sind, ihr Gehirn zu erobern und sie ins Krankenhaus muss. Bis die offene Wunde mit ätzendem Lysol desinfiziert wird, die Haare abkommen und man ihr einen großen Kopfverband anlegt. Im Krankenhaus hat Dina ein eigenes Bett. Später kommt der Vater und sagt, dass sich die Eltern scheiden lassen. Er bringt die Tochter zur Mutter. Besser ein Schlüsselkind im Trümmer-Berlin, denkt sie, als eine Läusearmee auf dem blutenden Kopf.
Das Mädchen Dina, sein Einschlafproblem und die Mutter-Sätze in der Schliemannstraße. Sie sind so verwirrend wie die in Karolinenhof. Die neue Unruhe, die neue Anspannung. Was soll die Tochter damit? Woher wissen, dass nach der Angstzeit in Karolinenhof längst eine neue Angstzeit angebrochen ist? Hunderte Berliner, die über Nacht weggefangen werden. Die in Speziallager verschleppt, in Moskau erschossen oder in Gulags deportiert werden. Woher wissen, dass die Mutter mit all ihrem Löwinnenmut drauf und dran ist, sich in einen zentralen politischen Konflikt zu stürzen? Stalins Juden-Paranoia und das Verleugnen des Holocaust im Osten. Susanne Kerckhoff kämpft nun ein zweites Mal. Sie wehrt sich gegen das Vergessen der toten Freunde. Ihr Streit ist ein Streit gegen das, was man später den Buchenwald-Komplex nennen wird. Es wird die DDR-Staatsdoktrin. Es ist ein Kampf, den sie nicht gewinnen kann.
Dina ist für die Mutter Gefährtin, Vertraute, Freundin, ihr "Himmelchen". Dabei hat die Tochter Tbc. Im Nachblick wird sie sich an einen kalten Morgen in der Schliemannstraße erinnern. Zwei Offizielle werden vor der Tür stehen. Sie seien vom Jugendamt, wird eine Stimme erklären. Die Behörde habe entschieden, dem Vater das Sorgerecht zuzuerkennen, denn die Kleine werde nachweislich tagsüber von der Mutter nicht betreut. Noch dazu sei sie krank. Die Pfützenspringerin sieht sich dabei zu, wie sie ihre Klamotten hastig in die Tasche stopft. Ein Auto fährt sie zum Bahnhof und ein Zug in ein neues Leben im Westen. Sie ist erst neun. Zusammen mit ihrem älteren Bruder wird sie erneut in ein Heim gegeben, bis der Vater für alle drei Kinder ein Zuhause gefunden hat.
Die Kriegskinder, Pfützenspringer, Schlüsselkinder, für die der Schriftsteller Peter Kurzeck die Diagnose "eines immerwährenden Zitterns" gefunden hat. Für das Mädchen aus der Schliemannstraße, das jetzt im Emsland aufwächst, ist das Zittern nicht vorbei. Denn wieder wird jemand vom Jugendamt kommen, und Dina soll sagen, wo sie lieber wäre, bei der Mutter im Osten oder beim Vater im Westen. Wie das entscheiden? Wo gehört sie hin?
Wenn die damals Zehnjährige heute über die Situation spricht, ist es, als ob die alte Wunde wie in Kunstharz gegossen die Jahrzehnte überdauert hat. Siebzig Jahre sind nichts. Der Schmerz ist ein Krater, über den man nicht hüpfen kann. Er ist da, und er geht nicht weg. Wie auch?
1950 erfährt sie im Emsland vom Tod der erst 32-jährigen Mutter in Ostberlin
Die Tochter sagt, was sie weiß: dass sie die Mutter auch liebe. Aber dass sie Schriftstellerin sei und keine Zeit für sie habe. Deshalb bliebe sie beim Vater und bei den Brüdern. Ein Jahr später, am 15. März 1950, ist die Mutter in Ostberlin tot. Mit 32 Jahren. Dina glaubt nichts von dem, was man ihr über den Tod der Mutter weismachen will. Es war kein Herzschlag. Sie kennt die Mutter, sie ist elf, sie weiß es. Als der Vater zur Beerdigung nach Berlin fährt, liest sie insgeheim die Kondolenzschreiben. Da steht alles drin. Wem klarmachen, worin sich die Tochter so sicher ist? Dass die Mutter noch leben würde, wenn sie sich vor einem halben Jahr für Berlin entschieden hätte. Wem sagen, dass sie sie hätte retten müssen? Eine Hypothek, die es über Jahrzehnte schwermachen wird, sich von einer ortlosen Kindheit zu lösen.
Die Umstände des Todes der Mutter, ihr Konflikt mit der Macht in Ostberlin, die Tribunale, der Druck, die Desillusionierung über den Antisemitismus im Osten, die Verzweiflung, die Einsamkeit - die Familie im Emsland erfährt praktisch nichts davon. Um die Kinder aus dem Verlorenen zu bergen, heiratet der Vater ein Jahr später wieder. Äußerlich scheint sich das Leben der Kerckhoffs zu stabilisieren. Die Kinder gehen zur Schule, radeln nachmittags an die Buchten der Ems. Einige Zeit später zieht die Familie nach Hamburg. Der Vater eröffnet eine Buchhandlung. Seine erste war am letzten Kriegstag auf dem Olivaer Platz in Berlin zerbombt worden.
Als der älteste Bruder 18 Jahre alt wird, will er weg aus Deutschland. Er sagt Freiheit und meint Kanada. Er wird Abenteurer, Geschäftsmann und Navigationsspezialist, der die erste Wildwasserschule der Welt, das Madawaska Kanu Centre, gründet. Auch der jüngere Bruder geht auf Freiheit und alternatives Leben. Er sieht sich als Aussteiger, betreibt einen Bauernhof in Niedersachsen, radelt zweieinhalb Jahre durch Südeuropa und Brasilien, um schließlich für mehr als zwanzig Jahre in Südportugal Immobilien zu vermakeln.
Und das Mädchen aus der Schliemannstraße? Wie bei vielen der Kriegskindgeneration versucht es, sein "immerwährendes Zittern" zu verwalten. Wie darüber sprechen, dass Dina noch immer auf Briefe der Mutter wartet? Wem sagen, wie sehr sie sie vermisst? Erst später wird die Tochter erfahren, wie stark die Mutter in Berlin unter dem Verlust der Kinder gelitten hat. Dina studiert an der Pädagogischen Hochschule in München und arbeitet als Grundschullehrerin. Was ihr wichtig ist? Stabilität, Verlässlichkeit, Zusammenhalt, Bindung. Es war kein Konzept, sagt sie, dass ich letztlich das Antimodell zur Mutter gelebt habe. Mit 18 Jahren lernt sie ihren Mann kennen, einen schnell hochrenommierten Physiker und Forscher. 1960, 1964 und 1966 werden ihre drei Töchter geboren. Bis zu deren Abitur ist die Familie wegen etlicher Forschungsaufenthalte des Vaters in der Welt unterwegs, vor allem in den USA.
Und Susanne Kerckhoff? Hat sie letztlich die Kinder geopfert, um ihren Lebensstoff zu verteidigen? Die Tochter zögert. Dann sagte sie leise: Obwohl sie so früh gegangen ist, hat sie mir etwas dagelassen. Ihre Gedichte. Gerade die für Kinder. Die hat sie für mich geschrieben.
Ines Geipel ist Schriftstellerin. Über Susanne Kerckhoff (1918 - 1950) und die verfemte Literatur des Ostens hat sie vielfach veröffentlicht. 2019 erschien ihr Buch "Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Hass".