Das ist schön:Gefühle von hoch oben

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Eine Fahrt mit dem Riesenrad weckt unterschiedliche Emotionen

Kolumne von Christiane Lutz

Als Kritiker ist man ständig damit beschäftigt, die Arbeit anderer zu bewerten: Akustik beim Violinkonzert so lala, Schauspieler großartig, Mittelteil des neuen Krimis eher bräsig. Dabei sollte man sich allerdings vor schnellen Urteilen hüten, das gebietet der Respekt. Außerdem kommt es durchaus vor, dass man überrascht wird und alles ganz anders ausgeht, als erwartet. Also nähert man sich auch der neuen Münchner Touristenattraktion mit der gebührenden kritischen Distanz, dem Riesenrad im Werksviertel. 30 Minuten soll die Fahrt dauern, im Schneckentempo gleitet die kleine Reisegruppe nach oben. Wäre das ein Theaterstück, würde man wahrscheinlich schreiben: eher zäher Anfang. Sieben Minuten, ein Viertel des Weges ist zurück gelegt, "gleich wird's toll", vertröstet eine Oma ihre zwei Enkelkinder.

Von hier aus kann man die Brachfläche, auf der das Konzerthaus gebaut werden soll, gut erkennen. Der Gasteig plustert sich aus dieser Perspektive selbstbewusst vor der Frauenkirche auf, als wolle er sagen: "Dort drüben steht bald ein Konzerthaus, hier aber stehe ich." Prahlerisch und schön präsentiert sich München, wenn man mal vom fragwürdigen Charme des nahen Ostbahnhofs absieht.

Wie reich an Architektur diese Stadt ist, wie viele kluge Gedanken unter den Dächern gedacht werden, wie viel Literatur hier entstand und vielleicht gerade entsteht! Wie viel Musik wohl in diesem Moment gemacht wird? Langsam geht es über den höchsten Punkt, dann beginnt die Reise nach unten. Bis zum Ende der Vorstellung will einer der Mitreisenden aber nicht mit seiner Kritik warten. Noch in der Gondel fängt er an, eine Online-Bewertung für das Riesenrad in sein Handy zu tippen: "zu teuer", "zu weit weg von der Innenstadt", "30 Minuten viel zu lang". Die Oma und ihre Enkelkinder hingegen strahlen, als sie aussteigen. Die Kritikerin ist auch überzeugt. Vielleicht haben ja alle recht mit ihren Empfindungen. Denn Kritik, in der Kunst wie im Leben, ist ja immer auch subjektiv. Und das ist doch schön.

© SZ vom 20.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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