Das Innenleben einer Religionsgemeinschaft:Haribo und Harmagedon

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Der Erfahrungswelt ihrer Figuren sehr nah: Stefanie de Velasco (Foto: imago images / Gerhard Leber)

Die Zeugen Jehovas und die Nachwendezeit: Stefanie de Velascos Roman "Kein Teil der Welt".

Von Nico Bleutge

Das Paradies sieht aus wie eine Mischung aus Zoo und Gemüsegarten. An die alte Welt erinnern nur noch Trümmer, Reste von Hochhäusern, Kirchen und Fußballstadien. Was man dort den ganzen Tag macht? Erst einmal für Ordnung sorgen. Also schnell die Trümmerhaufen mit Blumen bepflanzt. Dann die ausgespuckten Kaugummis, die Autoreifen und die Zigarettenstummel aufgesammelt. Am Ende kann man überall Gärten anlegen, mit Obst, Gemüse und Tieren, die sich mit Nuckelflaschen aufpäppeln lassen.

So ähnlich stellen sich Esther und Sulamith die andere Welt vor, die beiden Hauptfiguren aus Stefanie de Velascos neuem Roman. Zwei Mädchen, die sich der Imagination anvertrauen - das erinnert ein wenig an Nini und Jameelah aus de Velascos Debüt "Tigermilch". Wo es dort allerdings um vielerlei ging, um Freundschaft und die wichtigsten Erinnerungen, um Liebe, Träume und die Stadt Berlin mit ihren gesellschaftlichen Risslinien, geht es im neuen Buch um eine genau benennbare Sache. Esther und Sulamith beziehen ihre Paradiesvorstellung weniger aus ihrer eigenen Fantasie als aus den Schriften der Zeugen Jehovas. Und um das Leben in dieser Glaubensgemeinschaft dreht sich gut 400 Seiten lang nahezu alles.

Stefanie de Velasco ist wie die beiden Mädchen mit den Zeugen Jehovas aufgewachsen, erst als sie 15 war, konnte sie sich lösen. In einem platten Sinn autobiografisch ist ihr Buch aber nicht. Vielmehr versucht sie eine Geschichte zu schreiben, die vor einem bestimmten historischen Hintergrund unterschiedliche Sichtweisen auffaltet. Kurz nach dem Mauerfall zieht Esthers Familie aus dem Rheinland in ein ostdeutsches Dorf. Ihr Vater ist dort groß geworden, das Haus der Großmutter steht leer. Doch den Eltern geht es weniger um nostalgische Gefühle als darum, jenen missionarischen Auftrag zu erfüllen, der mit dem Ende des Kalten Krieges möglich geworden ist: neue Gemeinden zu gründen und für die Zeugen Jehovas, die in der DDR und in vielen anderen Staaten des Ostblocks verboten waren, Menschen zu gewinnen.

Der Osten ist winterlich grau und kalt, der Westen warm und voller Sommergerüche

Für Esther sieht die Sache freilich ganz anders aus. Und de Velasco dockt mit ihrem Erzählen an die Perspektive der 16-Jährigen an, welche die Zeugen Jehovas zunehmend als patriarchale Zwangsgemeinschaft erfährt. Nicht nur, dass sie weder Geburtstag noch Ostern oder Weihnachten feiern darf, nicht nur, dass ihr die Angst vor Dämonen und der großen Entscheidungsschlacht "Harmagedon" eingeimpft wird, nicht nur, dass sie die Welt ihrer Freunde nicht als die wirkliche Welt sehen darf - sie hat auch Sulamith durch die Gemeinschaft verloren.

In Rückblenden erzählt sie, wie Sulamith und ihre Mutter einst, nach ihrer Flucht aus Rumänien ins Rheinland, für die Zeugen Jehovas gewonnen wurden. Sulamith aber beginnt bald schon, die Grundsätze in Frage zu stellen, und entzieht sich der Gemeinschaft schließlich. Was genau mit ihr geschehen ist, bleibt lange in einer klug kalkulierten Schwebe. Dabei umschifft de Velasco die Untiefen selbsttherapeutischer Befragung und versucht auch keine Abrechnung zu schreiben. Doch wird genau dieses überdeutliche "Versuchen" zunehmend zum Problem des Romans. Alles soll von zwei Seiten gezeigt werden. Hier die Freundin, die zweifelt, dort die Freundin, die lange Zeit zu entscheidungsschwach ist. Hier die Nöte, die dazu führen, dass jemand sein Heil in der Glaubensgemeinschaft sucht, dort der empfundene Zwang, der jemanden zum Ausstieg bringt.

Auch führt die Vorstellung der zwei Seiten dazu, dass der Roman bisweilen wirkt, als hätte sich die Autorin den ParadiesTraum ihrer Figuren zum Vorbild genommen und erst einmal für Ordnung gesorgt. Der Osten ist winterlich grau und kalt, der Westen warm und voller Sommergerüche. Der Vater ruht in seinem Glauben, sein Bruder im Osten ist der Außenseiter, der im Untergrund lebt. Dass dies zum Teil Esthers jugendlicher Perspektive und Sprache geschuldet ist, in die sich auch noch ein Hang zur Sentenz mischt - geschenkt. Trotzdem leidet der Roman über weite Strecken an einem Schwarz-Weiß-Schema und bekommt etwas leicht Didaktisches.

Vor allem aber wiederholt de Velasco nicht selten einfach Denkmuster, wie sie auch bei den Zeugen Jehovas vorkommen, statt sie erzählerisch zu durchdringen. Ähnliches gilt für den Alltag, den sie einspeist, um zu zeigen, dass die "Kinder aus der Wahrheit" in Wahrheit in der wirklichen Welt leben. Wo sie in "Tigermilch" mit der Sprache gespielt hat (aus jedem "Falter" wurde dort flugs eine "Folter), werden hier einfach die Waren und ihre Namen reproduziert. Kaum eine Seite, auf der nicht ein kursiv gesetztes "Sinalco", "Snickers" oder "Haribo" aufblinken würde.

Das ist schade, denn es gibt eine spannende historische Ebene, die anhand der Geschichte von Esthers Großmutter angeschnitten wird: die Verfolgung der Zeugen Jehovas im Dritten Reich. Und es gibt eine fantastische Ebene, fünf kleine Einschübe über eine inselartige Welt, die im Salz versinkt, eine Erzählung, deren Herkunft nur lose angedeutet wird. Hätte Stefanie de Velasco diese beiden Ebenen noch dichter mit der erzählten Geschichte verbunden - vielleicht wäre ihr jene Offenheit gelungen, die in der Salzgeschichte einmal erwähnt wird: "Jemand hat die Himmelsrichtungen geändert ..., keiner weiß mehr, wo was liegt".

Stefanie de Velasco: Kein Teil der Welt. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019. 432 Seiten, 22 Euro.

© SZ vom 29.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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