Das Hörbuch:Schöpfung und Erschöpfung

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In Mary Shelleys Roman erzählt die von Frankenstein erschaffene Kreatur ausführlich von ihrem Leben. Im Hörspiel ist das Geschöpf sprachlos. Was bringt so ein "Frankenstein"-Melodram?

Von Florian Welle

Die Geschichte vom modernen Prometheus Viktor Frankenstein, die sich eine blutjunge Mary Shelley 1816 am Genfer See ausdachte, gehört längst zu unserem Mythenrepertoire. Die Film- und Bühnenadaptionen des Stoffes um den verantwortungslosen Wissenschaftler und seine aus Leichenteilen zusammengeflickte Kreatur sind Legion. Nun ist eine weitere Auseinandersetzung damit hinzugekommen. Der Hörspielkomponist Henrik Albrecht hat die Geschichte im Stile eines Melodrams vertont; die Bearbeitung selbst geht auf Leonhard Koppelmann zurück, der auch die Regie bei der WDR-Produktion übernommen hat. Die beiden kennen sich aus jahrelanger gemeinsamer Arbeit, so steuerte Albrecht die Musik zu Koppelmanns Hörspielbearbeitungen von "Die Säulen der Erde", "Die Forsyte Saga" und "Baudolino" bei, um nur einige zu nennen.

Ihr "Frankenstein" wurde im vergangenen Herbst erstmals live im Radio gesendet. Das hauseigene Orchester unter der Leitung von Vassilis Christopoulos spielte im Funkhaus des WDR. Jetzt ist bei DAV dazu die CD mit Patrick Güldenberg in der Rolle des Viktor Frankenstein erschienen. Er (und nur er) steht im Mittelpunkt der Aufnahme, die man als Auseinandersetzung darüber verstehen kann, wie weit die Wissenschaft auf ihrer Suche nach dem Ursprung des Lebens gehen darf.

Güldenberg gibt den Forscher mit den "tausendfach verfluchten Händen" als in sich zerrissene Person, faustisch-besessen und anmaßend zunächst, sodann feige und verzagt, schließlich als die hasserfüllte Verzweiflung in Person ob der tödlichen Geschehnisse, die er mit der Erschaffung des Wesens in Gang gesetzt hat. Shelleys "Frankenstein" ist ja vor allem ein Roman des Fliehens und der Verfolgung. Erst jagt das Geschöpf hinter Frankenstein her, später dreht sich alles um, der Wissenschaftler verfolgt es bis in den Tod. Ein Werk der Schöpfung wie der Erschöpfung gleichermaßen.

Man hört nur ein stockendes Atmen, Stöhnen, ein unnatürliches Grunzen

Der Ansatz, den Albrecht/Koppelmann gewählt haben, bedeutet aber auch, dass es bei ihnen keine Briefe von Walton gibt, die in der Vorlage die Binnenerzählung umklammern. Die anderen Figuren bleiben wirkliche Nebenfiguren. Das gilt für Frankensteins Vater (Ulrich Noethen), für Professor Waldman, Viktors Mentor (Reinhart von Stolzmann?. Selbst die Verlobte Elisabeth (Lou Zöllkau) hat hier nicht allzu viel zu sagen. Die einzige größere Sprechrolle neben Patrick Güldenberg gehört Dörte Lyssewski als Mary Shelley. Sie führt die Hörer mit konzentrierter Stimme durch ihre Geschichte.

Und die von Frankenstein in die Welt gebrachte Kreatur mit gelblicher Haut und wässrigen Augen? Im Roman erzählt das Geschöpf ausführlich aus seinem von Geburt an leidvollen Leben. In der Hörspiel-Adaption hingegen hört man nur ein stockendes Atmen, ein erschöpftes Stöhnen, ein unnatürliches Grunzen, so als sei das Wesen mehr Tier als Mensch. Das allerdings läuft Shelleys Intention zuwider. Ihre Geschichte verhandelt gerade auch Fragen der Erziehung, der Bildung und nicht zuletzt der Integration in die Gesellschaft. Die missgestaltete Kreatur ist der Außenseiter par excellence, und sie leidet. Aber sie ist nicht sprachlos.

In dieser gerade mal neunzigminütigen Bearbeitung geht also einiges von der Komplexität und Vielschichtigkeit des Romans verloren. Bleibt Henrik Albrechts Musik. Der Komponist hat bereits 2010 die Kammeroper "Frankenstein" geschrieben, der Stoff scheint ihn nicht loszulassen. Seine Komposition für Orchester scheut das Pathos nicht, schwelgt über weite Strecken in melodramatischen Klangfarben. Die Erhabenheit der Orte, an denen sich das Geschehen in der zweiten Hälfte entrollt - die französischen Alpen, das Eismeer - nimmt so klanglich Gestalt an. Auch verfügt sie über große emotionale Kraft, gerade in den wenigen leisen Momenten. Mit ihren beständigen Aufwallungen kann diese Musik auch erschöpfen.

Mary Shelley: Frankenstein oder Der moderne Prometheus. Mit Dörte Lyssewski, Patrick Güldenberg u.a. DAV, Berlin 2019. 2 CDs, Laufzeit ca. 85 Minuten, 14,99 Euro.

© SZ vom 22.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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