Das Buch:Trampen auf Trampelpfaden der Epochen

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Es gibt sie noch, die gute Seele unseres Kontinents: Der Niederländer Geert Mak reist quer durch Europa durch Raum und Zeit. Denn er findet Historie allerorten. Und erfährt - im Wortsinn - Geschichte.

Franziska Augstein

Jacques Delors, bekannt als ¸¸der große Europäer", hat es immer wieder gesagt: Man müsse Europa eine Seele geben. Leider hat er nicht gesagt, wie diese Seele aussehen solle. Und so ist es denn kein Wunder, dass es den vielen kleinen Europäern bisher auch nicht gelungen ist, sie zu beschreiben. Einen Vorschlag macht Geert Mak. Dieser Vorschlag ist neunhundert Seiten dick und erfüllt damit die allererste Anforderung an eine ordentliche europäische Seele: dass sie nämlich viele Seiten habe.

(Foto: N/A)

1999 ist Mak im Auftrag einer niederländischen Tageszeitung ein Jahr lang durch Europa gereist, in einem Kleinbus, kreuz und quer zwischen Spanien und Finnland, zwischen London und Stalingrad. Jeden Tag hat er ein Aperçu für diese Zeitung geschrieben. Außerdem hat er eine kleine Bibliothek konsultiert, um seiner Darstellung noch mehr historische Tiefe zu geben. Europa, schreibt er, ¸¸ist ein Kontinent, auf dem man mühelos in der Zeit hin und her reisen kann". Wohin er auch kam, fand er nicht bloß die Spuren der Geschichte vor, sondern eine dem Ort jeweils eigene Zeit: ¸¸Auf den Fähren in Istanbul herrscht das Jahr 1948, in Lissabon 1956. An der Gare de Lyon in Paris fühlt man sich wie im Jahr 2020; und in Budapest haben junge Männer die Gesichter unserer Väter."

Geert Maks Buch ¸¸In Europa" ist eine Reise durch Raum und Zeit. Teils geschichtliche Erzählung des zwanzigsten Jahrhunderts, teils Reportage aus allen Teilen Europas, ist es das Porträt eines Kontinents, dessen Großartigkeit von Unheil so zerstückelt wurde, dass Mak sie heute vor allem in den kleinen Dingen wiederfindet: in den Seltsamkeiten der Leute, mit denen er gesprochen hat, in den Windungen der Wege, die noch nicht asphaltiert sind, in den Spuren, welche die donnernde Geschichte in Stein und Erde und in den Seelen der Menschen hinterlassen hat. Die Einschusslöcher, die man heute noch in Ost-Berliner Häusern sehen kann, beeindrucken Mak. Dass in Barcelona alle Spuren des Bürgerkrieges getilgt sind, kommt ihn ein wenig unheimlich an. Ihn interessiert der Kontrast, der allein Zeit fühlbar werden lässt. Er sucht die Überreste des Gewesenen inmitten des Gegenwärtigen. An diesem Kontrast, wo immer er ihn findet, sei es im Novi Sad oder in Poperinge, wächst seine Darstellungskraft.

Geert Maks Reportagegeschichte ist chronologisch sortiert, wobei der Reporter Mak sich stets jenen Orten zuwendet, die im Mittelpunkt des Geschehens liegen, das der Historiker Mak beschreibt. Die Geschichte beginnt in Paris um 1900. Für den Ersten Weltkrieg ist Mak unter anderem nach Wien, Verdun und Versailles gereist. 1917 finden wir ihn in Petrograd, 1938 in München, Anfang der vierziger Jahre in Auschwitz. So hat er mit seinem Kleinbus das ganze Jahrhundert besucht. Wenn es nicht die Schauplätze von Tod und Zerstörung sind, an denen er Halt machte, dann vornehmlich jene Orte, wo die Gewalt des Jahrhunderts ausgeheckt wurde.

Viele Porträts von Städten und Dörfern sind so entstanden. Während Mak den ländlichen Flecken gleichmäßig liebenswürdig-melancholische Blicke schenkt, geht er mit den Städten ruppig um: ¸¸Barcelona ist wie eine schlampige Frau mit wundervollen Augen." In Wien wird ¸¸jeder Schneehaufen . . . unverzüglich gleichgeschaltet". Mak kann sich ¸¸nicht vorstellen, dass diese Stadt sich noch fortpflanzt, dass man hier noch miteinander ins Bett geht, dass unter all diesen Hüten und vernünftigen Kostümen noch Körper stecken". Und über Amsterdam ist zu lesen: ¸¸Nirgendwo sieht man so viele Menschen aus Abfalleimern essen wie in Amsterdam, was mit der Unbefangenheit der niederländischen Junkies zusammenhängt, aber auch mit der erstklassigen Qualität des holländischen Abfalls."

Maks europäische Geschichte wird vor allem von den Kriegen des 20. Jahrhunderts und seiner eigenen Reiselust zusammengehalten. Er selbst zweifelt, ¸¸ob die ganze Diskussion über die ,europäische Identität" überhaupt sinnvoll ist". Er glaubt nicht, dass es so etwas wie ein europäisches Wesen gebe. Die Europäische Union ist auch nicht mehr als ihre Geschichte. Von deren Ursprüngen erzählt Mak mit Bewunderung: Jean Monnet war nicht nur ein Vater der Europäischen Gemeinschaft, Mak erblickt in ihm obendrein auch denjenigen, der es erstmals in der europäischen Geschichte zuwege brachte, dass ein gemeinsames europäisches Interesse über nationale Egoismen gestellt wurde. Nach Beginn des Ersten Weltkrieges überredete der damals erst sechsundzwanzig Jahre alte Kognakhändler Monnet die englische und die französische Regierung, ihr Seetransportwesen und die Verwaltung ihrer Nahrungsmittel teilweise zu koordinieren. Die beiden dafür geschaffenen französisch-britischen Organisationen bezeichnet Mak als ¸¸Keimzellen" dessen, was später die EU werden sollte.

Als Historiker schreibt Mak nicht minder pointiert denn als Reiseschriftsteller. Das macht sein Buch zu einer fabelhaften Lektüre für alle, die gern etwas über die Geschichte des 20. Jahrhunderts wüssten, aber nicht wissen, wo sie anfangen sollen. Mak hält mit seiner Meinung nicht hinterm Berg. Den Briten zollt er große Hochachtung, weil sie ihr Weltreich für die Demokratie ruiniert hätten. Er zitiert Präsident Roosevelt, der sagte: Wenn das Haus des Nachbarn brennt, verhandelt man nicht erst über den Preis der Feuerspritze, man gibt sie gleich her und rechnet später ab. ¸¸Und abgerechnet wurde nach 1945 dann auch", konstatiert Mak, ¸¸den Briten wurden gnadenlos ihre letzten Gold- und Dollarreserven abgeknöpft." Damit - Mak sagt es nicht ohne Süffisanz - haben die USA sich auf Augenhöhe mit der Sowjetunion gebracht, die sich nämlich während des Spanischen Bürgerkrieges ihre Hilfsleistungen für die Republik mit deren Goldreserven üppig vergelten ließ.

Mak urteilt frisch, geht mit Menschen indes rücksichtsvoller um als mit Städten. Er lässt die Leute, die er auf seinen Reisen traf, meistens für sich selbst sprechen. Jene, die mehr zu sagen haben, bedeutende politische Würdenträger aller Art, lässt Mak über einige Seiten hin in einem langen Zitat zu Wort kommen. In einer neuen Ausgabe dieses Buches wäre es hilfreich, die Namen der Interviewten stets deutlich zu nennen. In der jetzigen Fassung zwingen einige dieser langen Selbstaussagen von offenbar berühmten, aber nicht in jedem Land gleichermaßen bekannten Männern den Leser ins Internet, was schade ist, weil er dabei Zeit verliert, die besser über der Lektüre von ¸¸In Europa" verbracht wäre.

Mit dem Zweiten Weltkrieg ist dieses Buch noch lange nicht zu Ende. Es folgen 1956 und 1968, die Nelkenrevolution, Francos Tod, schließlich der Fall des Eisernen Vorhangs und der Kosovo-Krieg. Langatmig wirkt ¸¸In Europa" nie. Es ist das ganz seltene Beispiel eines sehr langen Sachbuches, das den Leser gegen Ende noch ebenso berührt wie am Anfang.

Die Übersetzung liest sich sehr gut, die beiden Übersetzer haben Maks mitunter elegischen Ton im Deutschen nicht abgewürgt. Oftmals spricht Mak wie ein Erbe alter Zeiten, der ausgezogen ist, den Untergang jener Welt zu besichtigen, die nach dem Untergang des Abendlandes übrig geblieben ist. Sein Buch beginnt und endet mit einem Besuch in dem kleinen ungarischen Flecken Vásárosbéc. 1999 hat Ungarn sich ¸¸EU-tauglich" gemacht. Die Bewohner osteuropäischer Länder haben damals die EU wie ein gelobtes Land betrachtet, das die Gnade habe, zu ihnen zu kommen.

Auch die Bewohner von Vásárosbéc freuten sich auf die EU. Dass sie ihre Schweine nicht mehr zu Hause schlachten würden dürfen, konnten sie sich nicht vorstellen: ¸¸Sie sahen einander ungläubig an", schreibt Mak, ¸¸sie wussten damals noch nicht, dass sie bald in der Kneipe auch nicht mehr würden rauchen dürfen." Seitdem Ungarn der EU beigetreten ist, verlieren die Dörfer ihre Einwohner, auch Vásárosbéc. Beraterbüros, Demokratisierungs- und Verwestlichungsprogramme machen sich breit, westliche Discount-Läden verdrängen die einheimischen Geschäfte. Mak hätte sich gewünscht, die EU-Erweiterung wäre innerhalb der einzelnen Beitrittsländer in Etappen vonstatten gegangen. Die plötzliche Veränderung habe vieles vom einheimischen Zusammenhalt zerstört; und für die Nachbarn, die nicht in der EU sind, seien die plötzlich geschlossenen Handelsgrenzen eine Katastrophe. ¸¸Ich hätte diesen Bericht gern mit einem glücklichen Ende abgeschlossen", schreibt er.

¸¸In Europa" zeigt, was Jacques Delors sich gewünscht hat: die Seele Europas. Allerdings befürchtet Geert Mak, dass diese Seele, so wie er sie kennen gelernt hat, in der EU nicht überstehen wird.

GEERT MAK: In Europa. Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens und Andreas Ecke. Siedler Verlag, München 2005. 943 Seiten, 49,90 Euro.

© Quelle: Süddeutsche Zeitung Nr.294, Mittwoch, den 21. Dezember 2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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