Dänische Literatur:Verweile doch

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Madame Nielsen ist eine Kunstfigur. Das färbt auf ihren Roman "Der endlose Sommer" ab. Zum Glück. Denn so findet hier die Feier des Begehrens in einem Stil der Leichtigkeit und Präzision statt.

Von Meike Fessmann

Wie aus dem Nichts herausgewirbelte Pirouetten, dynamisch, flüchtig, stolz, so entstehen die Figuren dieses Romans, der auf hinreißende Weise den Sommer einfängt und die Zeit mit dazu. Man kann ihm beim Werden zusehen, wie er sich schleifenförmig Satz für Satz vorantastet. Dabei wirkt er nicht wie ein literarisches Experiment, sondern wie ein kleines Wunder. Aus Sprache erschafft er eine vollkommene Welt, in der alles enthalten ist: das Begehren und die Erwartung, der Zweifel am eigenen Geschlecht, Gewalt und Eifersucht, Rebellion, Kunst und soziale Utopie. Auf knappstem Raum durchstreift er die Provinz, die Stadt, die Welt, er findet das reine Glück jenseits der Zeit und lässt sich doch historisch ziemlich exakt datieren.

Morgens kommt die Mutter mit zerbissenen Lippen aus dem Schlafzimmer

Erzählt ist er aus der Perspektive einer Figur, an der alles ambivalent und unsicher ist, eines "scheuen Jungen, der vielleicht ein Mädchen ist, es aber noch nicht weiß." Er spielt Gitarre in einer Band, und irgendwann in der Nacht seines ersten Konzerts, noch ist es Winter, Februar oder März, geht er mit einem Mädchen nach Hause. Um Stinas Familie herum entwickelt sich die Geschichte, deren Zentrum "die Mutter" ist. Im "endlosen Sommer", der dem Roman seinen Titel gibt, ist sie gerade mal doppelt so alt wie ihre siebzehnjährige Tochter. Deren Stiefvater darf zu Beginn des Romans die Rolle des gewaltbereiten Finsterlings spielen und gibt ihm eine düstere Grundierung, von der sich das Leben ohne ihn dann umso strahlender abhebt. Als Bankangestellter hat er mit ererbtem Geld einen Gutshof in Ostjütland gekauft, den er in kürzester Zeit ebenso herunterwirtschaftet wie die Beziehung zu seiner Frau. Als sie ein Studium beginnt, lässt er sie von Detektiven bespitzeln. Kunstgeschichte und Musikwissenschaft, "das ist doch lächerlich", lautet sein Kommentar, schließlich habe sie zwei kleine Söhne zu versorgen. Er droht ihr mit Gewalt. Dann aber verschwindet er, einfach so.

Die große Freiheit beginnt. Der "weiße Hof" erwacht zu blühendem Leben. Jeden Morgen, noch in der Dämmerung, reitet die Mutter mit ihrem schwarzen Hengst über die Felder. Die Tochter zieht aus dem Keller zurück in ihr oberirdisches Mädchenzimmer. Und nicht nur der schüchterne Gitarrist, dem sie nachts Geschichte um Geschichte erzählt, geht im Haus ein und aus. Auch der schöne und kräftige Lars gesellt sich dazu. Er ist ein bisschen träge, weiß nicht, was er will, aber er darf auf dem Hof einfach irgendwo an der Wand lehnen, mit seinen schönen Füßen im Sand wühlen, die kräftigen Hände, die nie etwas halten, nutzlos beim Gehen am Körper schlenkern. Irgendwann gesellen sich noch zwei portugiesische Tramper dazu, und die Sommer-Kommune ist komplett. Ein munteres Jonglieren mit Lebensentwürfen beginnt, arglos, ohne Konzept. Es sind die Körper selbst, welche die Anziehung übernehmen. Die Mutter, trotz ihrer Hippie-Vergangenheit eine Frau von "aristokratischer" Ausstrahlung, hochgewachsen, das helle Haar bis zur Hüfte, mit leuchtendem Blick, um dessen Aufmerksamkeit die jungen Männer (und die Tochter) buhlen, findet in dem jüngeren der beiden Portugiesen, einem Künstler aus ärmlichen Verhältnissen, die ideale Ergänzung: "die selbstbewusste Verkörperung jenes Stolzes, den man, ohne ihm je zuvor begegnet zu sein, als den Stolz wiedererkennt, den ein Land oder vielleicht eher eine Kultur haben können". Morgens kommt sie mit zerbissenen Lippen aus dem Schlafzimmer, der Portugiese schlendert selbstbewusst hinterher. Die anderen staunen. Fasziniert verfolgen sie das Spektakel der Liebe. Nur die Tochter fühlt sich übergangen. Müssten nicht ihr alle Blicke gelten?

Madame Nielsen: Der endlose Sommer. Ein Requiem. Aus dem Dänischen von Hannes Langendörfer. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018. 190 Seiten, 18 Euro. E-Book 16,99 Euro. (Foto: N/A)

Es hat etwas Märchenhaftes, wie Madame Nielsen ihre Geschichte inszeniert, in der sich nicht nur ihre Bewunderung für H. C. Andersen findet, nicht nur zahlreiche Motive Kierkegaards, der Bibel und der Romantik, sondern auch eine höchst verblüffende Beweglichkeit, mit der ihre Sprache zwischen Zeiten und Räumen navigiert. Während sie das emphatische Jetzt des "endlosen Sommers" ausruft, kultiviert sie zugleich die lange Dauer und greift in Vergangenheit und Zukunft aus.

Abstrakte Diskurse, wie etwa eine Bemerkung über die Fürsorglichkeit des dänischen Staates oder eine Anspielung auf Baudrillards Konzept des Simulacrums, fließen selbstverständlich in die sinnliche Gegenwart der Erzählung ein. Es steckt eine gewaltige Verkörperungsenergie in dieser Sprache, deren lange Satzbögen Hannes Langendörfer meist treffend ins Deutsche übertragen hat (auch wenn ihm hier und da mal die Puste ausgeht). Keine zweihundert Seiten hat der Roman und führt uns doch bis nach Portugal, Gran Canaria und Kalifornien. Dort landen Stina und der schöne Lars. Aus seiner dänischen Lethargie gerissen, darf er einen Augenblick lang auf die Höhe seiner Möglichkeiten gelangen und wird zum Inbild eines blonden Surfer-Boys, bevor die Freunde in ihm einen der ersten Aids-Toten betrauern müssen.

Madame Nielsen wurde 1963 als Claus Beck-Nielsen in Jütland geboren und hat schon so manche Verwandlung durchgemacht. Er war Mitglied der legendären New Yorker The Wooster Group und ließ sich im Jahr 2001 auf einem Kopenhagener Friedhof symbolisch beerdigen, nicht ohne eine Nachlassverwaltung namens "Das Beckwerk" zu gründen, die eigentlich nicht seinen Nachlass, sondern sein Leben verwaltete, indem sie ihm sagte, was seine lebendigen Überreste tun sollten.

Das Virus "mit den drei großen Buchstaben" wird zur Krankheit mit den vier Buchstaben

Wie sich Else Lasker-Schüler in den 1910er-Jahren in Prinz Jussuf verwandelte, um nach dem Scheitern der Ehe mit Herwarth Walden Stärke zu zeigen, so entdeckte Claus Nielsen in einer Lebenskrise, dass er sich mit dem Habitus einer Dame wohler fühlt im Körper des dünnen Mannes, der er geworden war. Seit 2013 nennt er sich Madame Nielsen und kleidet sich auch so. Von der Kraft, die nötig ist, um sich in eine Kunstfigur zu verwandeln, ohne dem Geschlecht eine allzu große Rolle einzuräumen, ist in diesem Roman eine Menge zu spüren.

Seine Magie hat auch mit dem großen Freiheitsversprechen zu tun, das die 1980er-Jahre für die westliche Hemisphäre bereithielten, vom letzten Winkel in der dänischen Provinz bis zur amerikanischen Westküste. Es war das Freiheitsversprechen des Anything goes, eines Lebens für die Kunst, die Musik, die Theorie, für die Literatur und die Feier des Begehrens. Seine Unschuld verlor es, als das Virus mit den "drei großen Buchstaben" auftauchte, das zur Krankheit mit den vier Buchstaben wurde. Zusammen mit der Bedrohung durch den Atomkrieg verkörperte sie "das irdische Höllenszenario ihrer Generation". "Der endlose Sommer" ist ein verträumter, verspielter und realitätsmächtiger Roman, der die Musikalität der Sprache ausreizt, um in starken Bildern die Zeit stillzustellen, als alles möglich zu sein schien.

© SZ vom 17.05.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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