Citizen Media:Himmel und Hölle in Bewegung

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Die Zeitungsmacher entdecken ihre Leser in einer ganz neuen Rolle: als Mitmacher. Bürgerjournalisten haben bereits handfeste Skandale aufgedeckt - und manchmal verdienen sie sogar viel Geld.

Viola Schenz

Jeden Tag zwischen 11 und 16 Uhr wächst die Redaktion des Wisconsin State Journal um ein paar Tausend Mitarbeiter an. Dann können die Leser auf der Homepage der Tageszeitung über die Titelgeschichte der nächsten Ausgabe mitentscheiden.

Was im Januar als Experiment startete, ist dort oben im Norden der USA zum täglichen Ritual geworden. Zeitungsmacher entdecken ihre Leser in einer ganz anderen Rolle: als Mitmacher.

Im deutschsprachigen Raum breitet sich das Phänomen unter dem Begriff "Bürgerjournalismus" aus. Nicht, dass Redakteure ihre Leser auf einmal für pulitzerpreisverdächtig hielten, die Gründe sind profan.

Weltweit machen elektronische Medien und Leserschwund den Zeitungen zu schaffen - nun schlägt die Presse über die elektronischen Medien zurück: Appelle an Leser, sich per E-Mail, Internet oder SMS in den Redaktionsbetrieb einzuschalten, sind auch der Versuch, Kunden zu gewinnen oder zu halten. Und nebenbei ist jede neue Website auch eine mögliche neue Werbefläche.

Unter den großen Verlagschefs hat zuerst Bernd Kundrun von Gruner+Jahr den neuen Trend zum Programm gemacht. Die Journalisten seines Haues sollen sich umstellen und den Leser stärker in Recherchen und Geschichten einbeziehen - zum Beispiel könnten Capital-Leser die besten Steuerberater ermitteln.

Zu den Bürgerjournalismus-Pionieren gehört Norwegen: In Oslo lässt die Boulevardzeitung Verdens Gang seit zweieinhalb Jahren ihre Leser Nachrichten schicken. Im Schnitt treffen jeden Monat 5000 ein, ein Dutzend Titelgeschichten entstehen so.

Jeder Brand wird gemeldet

Der Erfolg machte viele neugierig, zum Beispiel Peter Stefan Herbst, den Chefredakteur der Saarbrücker Zeitung. Seit Jahresbeginn können sich Leser an der Saar als rasende Reporter und Fotografen versuchen.

Kaum ein Großbrand oder Verkehrsunfall bleibt seither ungemeldet. 1998 Hinweise gab es bisher, 493 verwertbare, so Herbst: "Wir kriegen Anregungen aus Orten, in denen wir keine eigene Redaktion haben", so der Chefredakteur: "Das macht uns schneller, aktueller, umfassender - gerade im Wettbewerb mit anderen Medien."

Bürgerjournalismus ist keine Erfindung des 21. Jahrhunderts. Der Dortmunder Journalistik-Professor Günther Rager erinnert an linke Blätter der 1920er Jahre und deren Appelle an "Arbeiter- und Volkskorrespondenten". In den 1970er Jahren wollten Stadtteilzeitungen eine "Gegenöffentlichkeit" schaffen. Davon blieb nicht viel - nun aber komme eine Wiederbelebung durch Internet und Handy. Der Unterschied: Die Projekte sind "initiiert durch Verlage, nicht wie damals von unten", so Rager.

In Deutschland mit seinem Mediennetz, lokalen Radiosendern und dem breiten Zeitschriftenangebot, sei der Markt ziemlich gesättigt. Anders ist die Lage in Osteuropa, oder in Südkorea. Dort lehrt die Plattform Oh my News den Medien und Politikern das Fürchten. Sie ist das weltweit erfolgreichste Beispiel für Bürgerjournalismus: Wer sich ausweist und registriert, kann auf der höchst professionell gestalteten Website mitschreiben. 40.000 Amateure tun das, samstags gehen die besten Beiträge als Zeitung in Druck.

Erster Internet-Präsident

Hier werden keine Brände entdeckt, sondern handfeste Skandale: geheime Zahlungen an Nordkorea oder Kungeleien zwischen Politikern und Medien. In Südkorea, dem Land mit der größten Dichte an Internetnutzern, schwört eine junge Generation der Autoritätsgläubigkeit der Älteren ab.

Bei den letzten Präsidentschaftswahlen vor drei Jahren hat die Website vor allem Jung-Wähler mobilisiert, der gewählte Roh Moo Hyun gilt als "erster Internet-Präsident".

Chefredakteur Oh Yeon Ho, der das Projekt Oh my News vor sechs Jahren ins Leben rief, spricht von einer "digitalen Demokratie", die Einzug halte. Zwei Millionen tägliche Klicks geben ihm Recht. Inzwischen gibt es Oh-my-TV, wo Amateure mit Handkameras live senden. Eine Redaktion mit 60 Mitarbeitern wertet die Beiträge aus und prüft Fakten.

Was veröffentlicht wird, können Leser kommentieren oder auch honorieren - per Link und Kreditkarte. Einmal brachte ein Kommentar seinem Verfasser 25.000 Euro ein.

Bei der Saarbrücker Zeitung gibt's kein Honorar. "Wir wollen unsere Leser nicht animieren, sich in Gefahr zu begeben", sagt Chefredakteur Herbst. In Norwegen, wo Verdens Gang zwischen 20 (kleiner Hinweis) und 2400 Euro (exklusive Nachricht) zahlt, beklagten sich bereits die Rettungsdienste über Leser, die ihnen im Weg stünden. Kritiker fürchten nicht nur Wichtigtuer, sondern auch Banalitäten und Falschmeldungen.

Beweisen konnte sich der Bürgerjournalismus bisher hauptsächlich in Extremsituationen: bei den Terroranschlägen auf die Londoner U-Bahn oder mit Amateurvideos aus Paddelbooten nach dem Hurrikan Katrina. Allerdings stellten sowohl die Los Angeles Times als auch die Washington Post ihre Leser-Plattformen ein, nachdem die wiederholt von Internet-Vandalen heimgesucht worden waren.

Und in Deutschland? Hier sucht die Netzeitung seit kurzem "20 Millionen Redakteure" für ihre Readers Edition, und das Frauen-Blättchen Glamour ließ jetzt Leserinnen über die Themen der 100. Ausgabe abstimmen. "Ich bereue den Tag, an dem wir das Leser-Reporter-Projekt gestartet haben", sagt der Saarbrücker Chefredakteur Herbst und lacht: "Seitdem ist bei uns die Hölle los, wir sollten Beratungshonorar verlangen." Vertreter vieler Verlage haben ihn besucht und wollten Tipps und Informationen.

Der Aufwand könnte sich lohnen. Medienunternehmer Robert Murdoch erklärte 2005 den US-Verlegern, wer im digitalen Zeitalter geboren ist, schicke "keine Leserbriefe an Chefredakteure, sondern startet ein Blog". Kurz darauf kaufte er MySpace, die führende englischsprachige Blogging-Website.

© SZ vom 13.6.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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