Christoph Nußbaumeder: "Die Unverhofften":Nichts hält uns zuliebe an

Lesezeit: 3 min

Mit den politischen Verhältnissen verändert sich auch die Landschaft: Christoph Nußbaumeder erzählt eine Familiengeschichte über 120 Jahre.

Von Christoph Schröder

Christoph Nußbaumeder eröffnet seinen opulenten Debütroman mit einer Art von Geobiografie, mit einem Urmeer, in dem sich vor Jahrmillionen Sand und Ton ablagerten und die Grundlage bildeten für jenes Material, das die Basis für "Die Unverhofften" bildet: Glas. Das Dorf Eisenstein, unmittelbar an der Grenze zu Tschechien gelegen, ist Ausgangs- und Schicksalskreuzungspunkt einer Geschichte, die 1900 einsetzt und von Nußbaumeder bis in die Gegenwart hinein entwickelt wird.

Nußbaumeder, geboren in Eggenfelden, rund 100 Kilometer von Eisenstein entfernt, ist bislang nur als Dramatiker in Erscheinung getreten. Im Jahr 2010 hatte sein Stück "Eisenstein" am Schauspielhaus Bochum Uraufführung. Dort traten bereits jene Charaktere auf, die Nußbaumeder nun im Roman als Protagonisten in den ambitionierten Versuch integriert hat, zum einen Zeitläufte über 120 Jahre zu erzählen und zum anderen in Dekadenschritten die Gestimmtheit der jeweiligen Epoche paradigmatisch in Einzelereignissen abzubilden.

Christoph Nußbaumeder: Die Unverhofften. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 672 Seiten, 25 Euro. (Foto: N/A)

Da ist Erna Schatzschneider, die 1945 auf der Flucht aus Böhmen in Eisenstein auf dem Hof der mächtigen Familie Hufnagel strandet. Georg, der Junge, den sie 1946 zur Welt bringt, ist nicht wie von ihr behauptet das Ergebnis einer Liaison mit dem Sägewerkserben Josef Hufnagel, sondern wurde in einernächtlichen Begegnung mit einem in den letzten Kriegstage aus einem KZ entkommenen Häftling gezeugt. Doch um die Versorgung ihres Sohnes sicherzustellen, versichert Erna dem verheirateten Josef glaubhaft, Georg sei sein Sohn. Diese Täuschung ist eine der Urszenen, die die Mechanik von "Die Unverhofften" in Schwung halten, weil sie entscheidende, ja katastrophale Wirkung auf gleich mehrere Biografien hat.

Mehr als 100 Jahre auf knapp 700 Seiten - wie sollte dieses monströse Jahrhundert unter dem Brennglas provinzieller Verhältnisse heute noch fassbar sein, ohne sich gefährlicher Auslassungen schuldig zu machen oder plakativ zu werden? Nußbaumeder umgeht beide Fallen. Seine Sprache ist demonstrativ schmucklos, stellenweise archaisierend, dann wieder umgangssprachlich und orientiert am Jargon der jeweiligen Zeit. In sieben Großkapiteln wirft er Schlaglichter auf gesellschaftliche Entwicklungen und die Biografien seiner Figuren.

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Jedes Buch verschiebt die Perspektive leicht; zwischen jedem der Bücher liegt ein Zeitraum von etwa zehn Jahren. Dementsprechend ist die Erzählstimme zum einen immer wieder zu einem summarischen Aufarbeiten historischer Ereignisse gezwungen, um den Zusammenhang wiederherzustellen, um dann wieder szenisch der Individualität seiner Figuren Rechnung zu tragen. Die Erzählinstanz ist nicht nur allwissend, sondern geradezu allmächtig; sie kennt das Große und das Kleine, das Innenleben aller Charaktere wie den geschichtlichen Kontext.

Es ist weit mehr als Aufstieg und Zersprengung und Wiederaufstieg einer mächtigen Familie, die Nußbaumeder nachvollzieht, wobei allein schon die Idee einer Dynastie als identätsstiftendes Element als ein auf Blut und Boden basierender Selbstbetrug dekonstruiert wird. Nußbaumeder zeigt vor allem, wie Politik und Ökonomie, die Organisation von Arbeitswelten und deren sozialpolitische Formung sich in der Nachkriegszeit entwickelt haben. Und wie eine Landschaft sich unter wechselnden politischen Verhältnissen wandelt und Einfluss auf die Mentalität ihrer Bewohner nimmt. Das beginnt bereits im ersten Kapitel, in dem Maria, Ernas Mutter, aus Rache für eine Vergewaltigung durch den Gutsherren, Josefs Vater, die Glashütte in Brand setzt und das Dorf verlässt. Erst aus der Zerstörung der Glashütte heraus erfolgt die Gründung des Sägewerks, das dem Dorf über Jahrzehnte hinweg Wohlstand und Arbeit sichert.

Nußbaumeders Figuren sind Typen, gleichzeitig gewinnen sie in der Erzählung Statur und Eigenständigkeit. Georg Schatzschneider, geboren 1946, ist die Hauptfigur, die Nußbaumeder durch die Jahrzehnte führt. Der stille, ehrgeizige Junge bekommt im Alter von 18 Jahren die Leitung des Sägewerks anvertraut und steigt durch zunächst geschicktes, später skrupelloses Geschäftsgebaren zu einem der reichsten Menschen der Republik auf. An Georgs Biografie durch die Wirtschaftswunderzeit, die liberalen, aber ökonomisch retardierenden Brandt-Jahre, die yuppiesken Achtziger, bis in die Wendezeit um 1990 verfestigt sich der Paradigmenwechsel, nach dem Verdienst nichts mehr mit Arbeit zu tun hat und Gewinn nicht an Produktivität, sondern an die richtigen Investitionen gekoppelt ist. Dass gleich drei Menschen durch Autounfälle zu Tode kommen, ist nicht fantasielos, sondern konsequent: Das Vehikel des Wirtschaftswunders fährt schließlich in der Gegenwart tatsächlich buchstäblich an die Wand. Wem gehört was? Wer zahlt wofür welchen Preis? Das sind die nie ausgesprochenen, aber zentralen Fragen, die Nußbaumeders Figuren antreiben, quer durch die Epochen. Bei allen berechtigten Vorbehalten gegen den Deutungsanspruch einer solchen Chronik muss man festhalten: "Die Unverhofften" ist ein kluger, ungemein unterhaltsamer Roman geworden.

© SZ vom 13.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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