Centre Pompidou:Das ist die Pariser Kluft

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Schneisen in der Maschinenwelt: Mit der Ausstellung "Airs de Paris" feiert das Centre Pompidou seinen 30. Geburtstag.

Daniel Binswanger

Man könnte bei "Airs de Paris" auch an "École de Paris" denken, jenen Pauschalbegriff für alle Kunstrichtungen, die Paris bis in die fünfziger Jahre eine dominierende Stellung einnehmen ließen.

Das Centre Pompidou wird 30 Jahre alt. (Foto: Foto: ap)

Um Lokalpatriotismus und das Zelebrieren verflossener Größe soll es in der Schau aber gerade nicht gehen. Der Titel ist inspiriert von Marcel Duchamps Ready-made "Air de Paris", einer kleinen Apothekerphiole, in welcher der Künstler 1919 seinem New Yorker Sammler Arensberg ein bisschen Pariser Luft nach Amerika brachte. In Duchamps ironischer Glasblase erscheint der Genius Loci schon früh als transportabel und zirkuliert auf globalen Routen.

Mit einer Duchamp-Retrospektive wurde 1977 das Centre Pompidou eröffnet, auch die jetzige Schau steht unter seinem augenzwinkernden Patronat. Sie spinnt die Fäden aus, die von Duchamp über die Avantgarde der Sechziger und Siebziger bis in die zeitgenössische Kunst hinein laufen.

Die Künstler, die heute in Paris leben, sind reichlich vertreten, aber das Netzwerk dieser Bezüge ist eine globale Angelegenheit, auch Nicht-Pariser gehören dazu. Die Frage nach der Veränderung des urbanen Raumes, nach der Identitätsstiftung in einer globalen Kultur bilden denn auch die thematischen Achsen der Ausstellung.

Die Straße kommt ins Museum

Die von Christine Macel und "Portikus"-Direktor Daniel Birnbaum kuratierte Show ist wohltuend ambitioniert. Noch immer stellt das Centre Pompidou die gloriose Vision einer kulturpolitischen Maschine des Begehrens dar, in deren multifunktionales Röhrensystem beneidenswerte Energien fließen.

Seit der im Jahr 2000 abgeschlossenen Renovierung haben sich allerdings kritische Stimmen gemehrt. Die Neuorganisation der Sammlung kann kaum überzeugen, der Ausstellungsbetrieb wird auf "Blockbuster" der Moderne getrimmt, die zeitgenössische Kunst wird häufig stiefmütterlich abgehandelt. Große kuratorische Würfe ereigneten sich in Paris in den letzten Jahren eher im Musée d"Art Moderne als im Pompidou. Allerdings scheint sich das wieder zu ändern.

Eigentlicher Angelpunkt der neuen Schau ist weniger Duchamps leichtfüßig inszenierte Phiole als der 16-Millimeter-Film "Conical Intersects" von Gordon Matta-Clark. Der Film zeigt ein "Cutting" des Künstlers. Bei diesen Aktionen durchbrach er Fassaden von Abbruchhäusern mit riesenhaften Löchern, als ob eine Schneise durchs städtische Gefüge geschlagen werden müsste. Hier handelt es sich nun um zwei Abbruchhäuser, die gleich neben dem im Bau befindlichen Centre Pompidou lagen.

Die Schneise wäre direkt durch die Mauern des künftigen Museums gegangen. Der den Situationisten nahestehende Matta-Clark war ein erbitterter Gegner des Beaubourg-Projektes. Nonchalant setzt die Jubiläumsausstellung bei der grundsätzlichsten aller Museumsdebatten an: Wäre das Pompidou nicht vorab ein Fall für die Abrissbirne gewesen?

Die Provokation findet viele Antworten, aber keine ist so subtil wie diejenige von Carsten Höller. Er legt eine kegelförmige Schneise von Mauerdurchbrüchen durch die Ausstellung. Die Spitze der Schneise ist kaum wahrnehmbar, doch dann weitet sie sich unerwartet. Die von Matta-Clark militant geforderte Dekonstruktion erledigt Höller intra muros.

Mit zwei wuchtigen Drucken von Bertrand Lavier wird sein spitzer Korridor brillant gerahmt. Laviers digitale Eins-zu-eins-Kopien von zugepinselten Schaufensterscheiben sind von unverschämter Schönheit. Und holen, quasi tel quel, die Pariser Straße ins Museum.

Zerfetzte Plakate

Die Resonanzen zwischen den Generationen sind am interessantesten. Jean-Luc Moulène etwa zeigt eine machtvolle Arbeit, eine "Gratiszeitung", in der obszöne Graffitis aus einer Unterführung abgebildet und transkribiert werden, in demselben Raum, in dem auch Jacques Villeglés Collagen aus zerfetzten Plakaten zu sehen sind.

Bei aller Distanz wird Moulènes Bezug zu Villeglés "Nouveau Réalisme" sofort augenfällig. Beide Werke wachsen daran. Ähnliches lässt sich sagen von Thomas Hirschhorns Installation "Outgrowth", einer düsteren Kollektion von Kriegsbildern und schwulstigen Globen, die einer Arbeit von Gérard Gasiorowski, "La guerre. Le Grand ensemble" gegenübersteht.

Erstaunlich auch, wie perfekt sich die optischen Auflösungen von Xavier Veilhans "Paysages fantämes" mit der geometrischen Strenge von Altmeister Daniel Buren kombinieren lassen. Veilhan war Burens direkter Schüler. Die Faszination heutiger Künstler für die Sechziger und Siebziger wird hier sinnfällig wie selten. Leben wir heute vom Recycling ästhetischer Ressourcen? Oder wird der Begriff des Aktuellen lediglich komplexer, hybrider?

Es sind weitere beeindruckende Arbeiten zu sehen, so etwa Tatjana Prouvés Rauminstallation "Polder", Chris Markers bereits klassische, aber selten gezeigte Videoarbeit "Zapping Zone" oder das filigrane Zeichnungstagebuch der Koreanerin Koo Jeong-A, das eine überraschende Symbiose mit Plastiken der Grande Dame der Plastik, Louise Bourgeois, eingeht.

Andere Beiträge, etwa von Sophie Calle, Philippe Parreno, Dominique Gonzales-Foerster oder dem Grafik-Duo m/m sind weniger spektakulär. Bedauerlich, dass eine ganze Sektion über "Landschaft, Architektur, Design", von Valérie Guillaume kuratiert, nur lose mit der Hauptschau verbunden scheint. Hier entsteht der Eindruck von Beliebigkeit.

Trotzdem ist die konzeptuelle Basis überzeugend. Die Veränderungen urbaner und "suburbaner" Räume, die Konstruktion globaler Identitäten und die neuen Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Intimität werden geschickt thematisiert. Die Kuratoren haben bewusst mit Spezialisten aus verschiedensten Disziplinen zusammengearbeitet. Die Schau knüpft damit an "Les immatériaux" an, die zum Mythos gewordene Beaubourg-Ausstellung von 1985, für die Gast-Kurator Jean-François Lyotard den ersten Cyber-Austausch unter Theoretikern organisierte.

Ein Epoche machendes Ereignis wie die Lyotard-Schau lässt sich nicht wiederholen. Sich daran zu messen, bleibt jedoch das einzig Richtige.

"Airs de Paris", Centre Pompidou Paris, bis 15. August. Katalog 39,90 Euro. Info: www.centrepompidou.fr

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