Cannes-Jury-Kritik:Kollektiver Wutanfall

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Man war sich so sicher, die Goldene Palme beim Filmfest in Cannes konnte diesmal nur "Toni Erdmann" kriegen - die deutsche Komödie von Maren Ade. Die Jury unter Mad-Max-Regisseur George Miller entschied anders ... und wird nun kräftig gescholten.

Von David Steinitz

Eigentlich war die Sache längst abgemacht gewesen: Wir sind Palme!

Nicht nur die deutschen Filmkritiker hatten praktisch einhellig damit gerechnet, dass ihre Landsfrau, die Regisseurin Maren Ade, für ihre Tragikomödie "Toni Erdmann" beim Filmfestival in Cannes die begehrte Goldene Palme gewinnen würde. Auch die New York Times hatte vorsichtshalber kurz vor der Preisverleihung am Sonntagabend noch ein Interview mit der in Berlin lebenden Filmemacherin prominent auf der Homepage platziert. Das stand dann aber plötzlich etwas zusammenhanglos auf der Seite, nachdem überraschend der 79-jährige britische Kinodinosaurier Ken Loach für sein Sozialdrama "I, Daniel Blake" den Preis bekam. Immerhin wissen die NYT-Leser jetzt, wie man die in den Staaten unbekannte Deutsche auszusprechen hat, denn das hat die zuständige Redakteurin in der Einleitung ihres Interviews lautmalerisch erläutert: Mar-in Ah-day.

Filmkritiker reagieren immer gerne empört, wenn eine Preisjury ihr Meinungsmonopol durch eine unerwartete Entscheidung unterwandert. Das ist ein Spielchen, das sich jährlich mindestens drei Mal auf den großen Festivals in Berlin, Venedig und Cannes wiederholt. Dass die neun Juroren - darunter der Regisseur George Miller, die Schauspielerin Kirsten Dunst und der Schauspieler Mads Mikkelsen - nun aber einen dermaßen kollektiven Kritikerwutanfall über sich ergehen lassen müssen, ist trotzdem außergewöhnlich. Zumal es eher selten vorkommt, dass hollywoodverwöhnte US-Kritiker deutsches Kino so lobhuldigen wie dieses Jahr in Cannes.

Kommentatoren in amerikanischen Kino-Branchenzeitschriften wie Variety und in Tageszeitungen wie der Los Angeles Times fluchen jetzt jedenfalls gewaltig über die Entscheidung gegen "Toni Erdmann". Wie genau man diesen komischen Titel aussprechen soll, da sind sich die Amerikaner zwar noch nicht ganz sicher, weshalb der Film unter US-Kritikern derzeit gerne einfach "the German comedy" genannt wird. Aber eine deutsche Komödie gilt vielen internationalen Filmexperten ohnehin als dermaßen erstaunliches Paradoxon, dass "Toni Erdmann" auch ohne Palme für Mar-in Ah-day in etwa so werbewirksam fürs germanische Kino sein dürfte wie die WM 2006 für den deutschen Fußball.

© SZ vom 24.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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