Buchkunst:Schiff im Sturm

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Im Werk der Limburg-Brüder (links) hält der heilige Nikolaus den Schiffsmast, in der neu entdeckten Zeichnung scheint er ihn eher abzubrechen. (Foto: Getty)

Die Brüder Limburg schufen im Mittelalter herrliche Buchmalereien. Ist nun ein neues Blatt aufgetaucht?

Von Michael Rohlmann

Der Markt für alte Kunst ist eng bestückt. Umso zweifelhafter sind viele Neuentdeckungen, die in den vergangenen Jahren für Diskussionen sorgten: Bisher unbekannte "Originale" von Großmeistern wie Michelangelo und Raffael machten die Runde, die meisten davon erwiesen sich bei näherem Hinsehen als Werke drittklassiger Nachahmer. Nur die Kunst des Mittelalters blieb von diesem Zuschreibungswahn bisher weitgehend verschont. Nun ändert sich das.

Auf einer Internet-Auktion im Jahr 2013 tauchte ein bislang unbekanntes, mit dreißig Federzeichnungen illustriertes Stundenbuch der Zeit um 1400 auf. Der angesehene Antiquar Heribert Tenschert erwarb es aus dem Nachlass einer belgischen Adelsfamilie für 2,7 Millionen Euro. Auf der führenden Messe für alte Kunst, der Tefaf in Maastricht, bot er es im März 2016 für zwölf Millionen Euro an und publizierte eine umfangreiche Studie des Kunsthistorikers Eberhard König dazu. König, emeritierter Berliner Professor und einer der besten Kenner spätgotischer Buchmalerei, schreibt darin die Illustrationen einem der Brüder Limburg zu und vermutet in dem Auftraggeber keinen Geringeren als den berühmten Herzog von Berry, den vielleicht größten Bibliomanen des Spätmittelalters. Das Museum in Nimwegen, der Vaterstadt der drei Limburgs, hat das Buch zum sechshundertsten Todesjahr der Künstler kürzlich einige Tage lang ausgestellt, Journalisten erhoben es verzückt in den Rang einiger der schönsten Buchmalereien in der Geschichte der Kunst. Doch erreicht das neu entdeckte Werk wirklich deren Qualität? Können Königs Thesen über Urheberschaft und Herkunft stimmen?

Paul, Herman und Johan van Limburg waren Söhne eines Bildhauers in Nimwegen. Wohl ihr Onkel Jean Malouel (Johan Maelwael), ein Hofmaler der burgundischen Herzöge, vermittelte Paul und Johan kurz nach 1400 als Buchmaler an seinen Herrn Philipp den Kühnen. Nach dessen Tod traten alle drei Brüder in den Dienst von Philipps Bruder, dem Herzog Jean de Berry. Dieser Sohn, Bruder und Onkel französischer Könige ist eine der großen, mythischen Gestalten aus dem Herbst des Mittelalters. Er war ein rücksichtsloser Herrscher und zugleich ein versessener Sammler von Kostbarkeiten aus Kunst und Natur, mit der er sich in seinen Schlössern in Paris und Bourges umgab. Für diesen Vertreter einer verfeinerten Adelskultur illuminierten die drei Brüder vor allem zwei religiöse Manuskripte - fromme Stundenbücher und zugleich Luxuskunst von atemberaubender Pracht und Feinheit. Die "Belles Heures" und mehr noch die berühmten Monatsbilder der "Très Riches Heures" des Duc du Berry haben unser Bild von der spätmittelalterlichen Adelswelt geprägt. In erstaunlichem Naturalismus und leuchtenden Farben erscheinen anmutige Landschaften mit Schlössern und Hütten, Hügeln, Wäldern und Wiesen. Leben und Spiel des Adels stehen neben der mühsamen Arbeit der Bauern, Luxus und Lumpen sind poetisch verzaubert. Feste werden gefeiert, Tiere gejagt, Felder bebaut, Schafe geschoren. Auf diesen Werken der Limburgs konnte im burgundischen Flandern die jüngere Malergeneration von Jan van Eyck und seinen Zeitgenossen aufbauen. Ihre Revolution der Malkunst eroberte im 15. Jahrhundert ganz Europa.

Der Tintenzeichnung fehlt die Weite des Meeres, überhaupt eine gewisse Räumlichkeit

Anhand der künstlerischen Merkmale des neu aufgetauchten Buchs selbst lässt sich erörtern, ob es von den Limburgs stammen kann und ob es unsere Vorstellung von deren Kunst bereichert. Seine Bebilderung ist unvollendet, dreißig Federzeichnungen sind ausgeführt. Handelt es sich um bloße Vorzeichnungen für dann nicht ausgeführte farbige Miniaturen? Zwar gaben vereinzelte Tintenzeichnungen um 1400 schon eine eigene kleine Gattung ab, berühmt ist etwa jene aus der "Bible moralisée" des Hieronymus Bosch. Dessen Hand glaubt König in dem Tenschert-Stundenbuch denn auch wiederzuerkennen. Doch erreichen die zur Diskussion stehenden Zeichnungen kaum die Qualität des Hieronymus, trotz des an ihn erinnernden winzigen Formats. Die Seiten messen nur 14 mal zehn Zentimeter, und auch auf kleinster Fläche entfalten die Zeichnungen großen Reiz. Ein Blatt zeigt ein Schiff im Seesturm, das von einer Himmelserscheinung des heiligen Nikolaus gerettet wird. Freilich erweist der Vergleich mit derselben Szene in den "Belles Heures", wie viel von der spezifischen Limburg-Kunst sich eben nur dort, im Medium der Malerei, vermittelt. Wo die Federzeichnung mit Wolken- und Hagelgekrakel am Himmel recht unbeholfen den Sturm andeutet, zeigt die sicher originale Miniatur überzeugend ein atmosphärisches Himmelspiel, in dem dunkle, braune Sturmwolken vom Flug des Heiligen hinweggetrieben werden und daneben sich wieder tiefes Himmelblau zum Horizont hin lichtet. In der Zeichnung taucht der Heilige ganz mittelalterlich-altertümlich aus einem wellenförmigen Wolkenkranz auf, in der Miniatur fliegt er als Himmelserscheinung einer Sturmwolke angeglichen heran. Hier findet sich, was der Zeichnung fehlt: die Weite des Meeres und das vom Sturm ergriffene Schiff darin. Eine gewisse Räumlichkeit, hergestellt durch ein kleineres, da noch in weiter Ferne ruhig segelndes Schiff. Das vordere Schiff jedoch ist von der Gewalt des Meeres ergriffen, die Gischt der Wellen umsprüht das Holz der Planken. In der Macht des Sturms scheint sich seine Form in sich zu biegen, Taue tauchen ins Wasser ein. Das nach rechts geblähte Segel lässt den Mast nach rechts hin brechen, der von Leinen gehaltene obere Mastteil knickt in Gegenrichtung ab. Ein Seemann umklammert das untere Ende, als suche er den zusammenbrechenden Baum noch zu halten. Sein Blick geht nach oben, wo der Heilige mit einer Hand helfend den Mastkorb ergreift und mit der anderen Hand das rettende Segenszeichen spendet. Alldem gegenüber wirkt die Motivlogik der Zeichnung reduziert. Fast scheint dort nicht der ja nach links blasende Wind, sondern die Berührung des Heiligen den Mast nach rechts hin zu brechen. Der Zeichnung mangelt es bei aller Qualität an einer überzeugenden Illusion von Raum und Wetterwelt. Ihr fehlen die Fülle und Kraft der Details, die Logik, die Dichte und der Reichtum der Erzählung, die Weite, die Atmosphäre, die Poesie der farbig leuchtenden Erscheinung.

Zweifellos zeigen die neu aufgetauchten Zeichnungen eine Verbindung zum Stil der Limburgs. Doch die Aufteilung des erhaltenen Werks dieser in den Quellen nur als Kollektiv fassbaren Künstler auf einzelne Hände wollte der Forschung trotz bewundernswerter Anstrengungen und Leistungen bislang nicht recht gelingen. Und auch die Abgrenzung des Werks zu dem von vermuteten Nachahmern oder weiteren Mitarbeitern fällt bei den Experten durchaus unterschiedlich aus. Dies zeigte sich auch bei der Präsentation der neuen Handschrift in Nimwegen, wo Rob Dückers, vor Jahren Mitorganisator der großen Limburg-Ausstellung, sich gegen Eberhard König dafür aussprach, das Werk einem Nachfolger der Limburgs um 1420 zuzurechnen. Und mit der Zuschreibung an die bereits 1416 verstorbenen Brüder stehen und fallen auch alle Vermutungen über einen möglichen Auftraggeber der Handschrift. Die versuchte Zuschreibung des neuen Stundenbuchs an die genialen Limburgs wird es daher wohl schwer haben, sich durchzusetzen.

© SZ vom 07.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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