Buchhandel:Es ist nicht weit nach New York

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Seit 73 Jahren arbeitet Helga Weyhe in ihrer Buchhandlung in Salzwedel, seit 1965 leitet sie den Laden selbst. Die älteste Buchhändlerin Deutschlands hat ein Faible für Geschichte und für die Metropolen.

Von Hans-Peter Kunisch

Was sofort auffällt, sind die vielen kleinen Zettel auf den Ladenfenstern, auch in der Mitte. Zitate stehe darauf. "ach, ich werde mir doch mächtig fehlen, wenn ich einst gestorben bin", von Kurt Tucholsky, "nichts ist in der welt so gerecht verteilt, wie der verstand, denn jeder ist davon überzeugt, dass er genug davon hat", von René Descartes. Alles klein geschrieben. Nicht typisch für einen Buchladen in einer Kreisstadt wie Salzwedel, 25 000 Einwohner, zwischen Hamburg und Berlin. Dazu die alte Schrift: "Buchhandlung H. Weyhe", daneben kleiner: "Antiquariat". Ein Laden in einem zweistöckigen, für die Stadt typischen Fachwerkbau.

Hinter den Zetteln, im Schaufenster, sieht man Susan Sontags "The Doors und Dostojewskij", Johann Friedrich Danneils "Protocolle des Köpenicker Kriegsgerichts gegen Kronprinz Friedrich" aber auch "Nero Corleone kehrt zurück". Die Auslage hat die Anmutung einer stilvoll versponnenen, angenehm unaufgeräumten Buchhandlung in einer englischen Universitätsstadt. Im Laden steht Helga Weyhe. Sie wird im Dezember fünfundneunzig Jahre alt.

"Die Zitate", sagt sie, "die fliegen mir halt zu. Und die unterschiedlichen Bücher, naja, ich habe unterschiedliche Kunden. Ich bin halt ein Gemischtwarenladen." Das sagen heute viele Buchhändler. Bei Helga Weyhe ist es eher Understatement. Es ist schon ein besonderer Gemischtwarenladen, in dem sie seit 1944 arbeitet, also seit 73 Jahren. In der Wohnung über dem Laden ist sie aufgewachsen, als Kind hat sie hier unten gespielt. In diesem Sommer wurde sie für ihr Lebenswerk mit einem Sonderpreis des Deutschen Buchhandelspreises geehrt.

"Die Stadt liegt an einer der ältesten Grenzen, hier die Welfen, dort die Hohenzollern."

"Meine Schwester und ich mussten früh lesen. Mein Vater musste ja wissen, was er an Weihnachten verkaufen wollte." So ging es schon Helga Weyhes Großvater, der die Buchhandlung, die schon seit 1840 bestand, 1871 kaufte, als er aus dem deutsch-französischen Krieg zurückkehrte. "Mein Ur-Ur-Großvater", lächelt sie, "war in der Franzosenzeit Bürgermeister. Der hat noch mit Goethe in Napoleons Schlamm gesteckt." 1965 hat Helga Weyhe den Laden übernommen, und konnte ihn auch in der DDR als Privatbesitz erhalten. Sechs Tage in der Woche ist er noch heute geöffnet. "Von 13 bis 15 Uhr mache ich aber Pause."

Nicht von ungefähr hängt ein Schild der Lexington Avenue in Helga Weyhes Laden. (Foto: Hans-Peter Kunisch)

Helga Weyhe ist historisch interessiert, das spürt man gleich. Was soll man sich in Salzwedel ansehen? "Zuerst einmal müssen Sie wissen, dass die Stadt an einer der ältesten Grenzen Deutschlands liegt, auf der eine Seite die Welfen, auf der anderen die Hohenzollern. Ab 1866 verlief die Grenze zwischen Preußen und Hannover nördlich von Salzwedel. Diese Grenze ist älter als die Mauer. Das merkt man noch heute."

"Waren Sie schon im Kunsthaus? Das hat neu aufgemacht, da gibt es interessante Expressionisten."

Und was machte jemand wie Helga Weyhe, als die Mauer fiel? "1989? Ich bin ans Fenster gegangen und hab mir den Stau angeschaut. Wie sie mit ihren kleinen Autos Richtung Uelzen gefahren sind. Dann habe ich mich gefragt, ob das alles wohl hält." Dass Helga Weyhe nicht sofort in den Westen gegangen ist, heißt nicht, dass sie die DDR schätzte. "Wenn ich rote Bücher hatte, Marx, Engels, Lenin, dann war das mehr für die Studenten aus Göttingen. Im kleinen Grenzverkehr lief das gut. Wie medizinische Fachbücher, die hier günstig waren. Ich selber sage: ich habe immer in Deutschland gelebt. Salzwedel ist unter den Nazis eine bürgerliche Stadt geblieben, und in der DDR auch. Wenn man eine alteingesessene Familie war, wurde man nicht behelligt. Mein Vater hatte keine braune Literatur, und ich keine rote. Ich erinnere mich an den 30. Januar 1933. Da war ich neun. Da gab es einen Kreisleiter, da wusste man, dass er soff. Das war keine eindrückliche Erscheinung."

Dass das Bürgertum die Nazis auch in kleinen, alten Hansestädten wie Salzwedel nicht aufhalten konnte, sie mit an die Macht gehievt oder sich arrangiert hat, weiß man. Aber alle Grautöne zwischen Fanatismus und Widerstand bleiben interessant. Helga Weyhe absolvierte den Arbeitsdienst, studierte in Breslau, Königsberg, Wien. "Da war mehr Abenteuer dabei. Ich war unterwegs, hab mir die Gegend angeschaut. Das war gut. Ich wusste ja nicht, dass das schwieriger werden würde."

Die älteste Buchhändlerin Deutschlands: Helga Weyhe. (Foto: Hans-Peter Kunisch)

Nach dem Krieg und der Gründung der DDR, 1951, durfte sie einen Vetter in Rom besuchen. "Das war schwer: zurück. Schwerer als später, auch wenn das dann New York war." Nach New York reiste sie zum ersten Mal 1985. Der Grund war die Buchhandlung mit Galerie, die ein Bruder ihres Vaters dort, in der Lexington Avenue, begründet hatte. "Er hatte die erste Matisse-Ausstellung in New York, Alexander Calder war dort", sagt Helga Weyhe stolz. "Dabei kam der Onkel als Wächter für russische Zirkushunde nach Amerika. Ich konnte ja erst als Rentnerin dorthin reisen. Da war er schon gestorben, die Cousine hat den Laden geführt. Aber er hat mir ein kleines Erbe hinterlassen. So konnte ich einen Monat bleiben." Und so kam es auch, dass Helga Weyhe schon größere Autos gesehen hatte als die Trabis, die in den Tagen der Wende vor ihrem Fenster in der Schlange standen.

Aber wie ist es jetzt? Ist Salzwedel noch "bürgerlich?" Helga Weyhe, die mit dem Computer umgehen kann, Kunden "von Boston bis Bombay" hat und Leuten, die sie kennt, bestellte Bücher noch immer gelegentlich selber nach Hause bringt, überlegt und macht ein etwas müdes Gesicht. "Bürgerlich? Nein." In der Altperverstraße, in der ihr Laden steht, verfallen die Häuser. Wenn Läden aufgegeben werden, finden sich selten neue Mieter. "Und bei mir, da ist ja auch abzusehen, dass es den Laden irgendwann nicht mehr geben wird. Nach drei Generationen ist meist Schluss. Aber waren Sie schon im Kunsthaus? Das hat neu aufgemacht. Da gibt es interessante Expressionisten."

Die Schaufenster sind voll mit Zitat-Zetteln. (Foto: Hans-Peter Kunisch)

Was sie selber gerade gerne liest? "Alice Berend, die musste emigrieren, sie ist in Florenz gestorben, ,Spreemann & Co.' ist ein Buch von ihr, sehen Sie, es ist von 1916, das ist eine tolle Berliner Geschichte." Berlin, Florenz, New York, Lexington Avenue. In ihrer Buchhandlung in Salzwedel stellt Helga Weyhe Wegweiser in die Welt auf.

Bei der Eröffnung des Kunsthauses, das eine kleine, feine Sammlung expressionistischer Druckgrafiken hat, hörte sie vor zwei Jahren von einer ehemaligen Mitschülerin, die in Tel Aviv lebe. Umgehend besorgte sie sich ein Ticket und flog hin.

© SZ vom 21.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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