Brasilianische Literatur:Im Schatten bleiben

Lesezeit: 4 min

Geovani Martins erzählt ohne Wehleidigkeit über das Heranwachsen in den Favelas von Rio de Janeiro.

Von Birthe Mühlhoff

"Niemand kommt als Schmetterling zur Welt." Das murmelt der neun Jahre alte Breno vor sich hin, während er in der Küche steht, nach etwas Essbarem sucht, um seine Großmutter nicht aufwecken zu müssen. Schokokeks oder Rührei? Die Entscheidung fällt für den Keks. Dabei findet er einen Schmetterling, der in einen Topf gefallen ist, und da kommt ihm dieser Satz in den Kopf, den seine Oma in allen erdenklichen Lebenslagen anbringt.

Es ist der zentrale Satz der nur vier Seiten langen und damit kürzesten der dreizehn Erzählungen, die in dem schmalen Band "Aus dem Schatten" versammelt sind. Die kurze, kindliche Küchenszene wirkt wie eine Parabel für all das, was in den anderen Erzählungen meistens in drastischeren Worten und Begebenheiten auf der Straße stattfindet: Das Aufwachsen, Erwachsenwerden, und wie man das macht. Ob man dafür vielleicht mehr braucht als nur Zeit, die man totschlägt.

Im Mittelpunkt der Erzählungen des 1991 geborenen brasilianischen Autors Geovani Martins stehen immer Menschen wie er: Jungs oder junge Männer aus den Favelas von Rio de Janeiro. Alle sind sie eher unscheinbar, ohne besondere Begabungen, sind weder Anführer noch Außenseiter. Sie arbeiten als Balljungen auf den Tennisfeldern der besseren Viertel, als Motorradtaxifahrer oder Dealer. Oder sie haben gerade frei und suchen einen, der handelt, weil sie noch kiffen wollen, bevor sie mit Freunden an den Strand fahren. Die Sonne, der Strand, das Häusermeer, die ärmeren Stadtviertel, die Hügel. Unter den Jungs die Lust, aber auch Notwendigkeit, sich beweisen zu müssen. Und zwar ohne zugleich die Eltern zu enttäuschen oder in Verzweiflung zu stürzen - die Mutter, die ihren Sohn bedrängt, doch immer einen Personalausweis bei sich zu tragen, damit er im Ernstfall ein richtiges Begräbnis bekommt, kein anonymes. Die Waffen, die im wahrsten Sinne allgegenwärtig sind: "Woher die Schüsse kamen, konnte er nicht sehen, keine Ahnung, ob es die Polizei war, die Miliz oder die Nachbarn."

Normalität ist auch Unausweichlichkeit: "Es kam, wie es kommen musste"

Die Hautfarbe der Jungs und jungen Männer unterschlägt Geovani Martins übrigens. Nur wenn ein Weißer da ist, ein Gringo, dann findet das Erwähnung, denn es ist die Ausnahme. Beim Lesen fällt das nicht weiter auf, so wenig, wie in literarischen Texten ansonsten auffällt, dass alle Charaktere weiß sind. Und so, wie es für Weiße normal ist, nicht einfach von der Polizei angehalten zu werden, so alltäglich ist es für die Bewohner der Favela, willkürlich durchsucht zu werden.

Normalität ist auch Unausweichlichkeit. Mehr als einmal fällt der Satz, dass "es kam, wie es kommen musste". Oder anders: "Das Spiel kann nur stattfinden, wenn beide Mannschaften auf dem Feld stehen." Dieser Gedanke schießt dem in die Enge getriebenen Graffitisprayer Fernando durch den Kopf, während er eine Horde von Männern auf sich zukommen sieht. Die Schriftzüge, die er an den Häuserwänden hinterlässt, müssen notwendigerweise die Wut erzeugen, die ihm gleich ein paar Knochenbrüche bescheren wird. Tragisch, aber so ist es eben.

"O sol na cabeça" - die Sonne auf dem Kopf. Der deutsche Titel "Aus dem Schatten" scheint sich eher auf den Autor Geovani Martins zu beziehen als auf die Protagonisten seiner Erzählungen. Überraschend hat er letztes Jahr den brasilianischen Literaturhimmel erobert. 1991 wurde er im Westen von Rio de Janeiro geboren und ist in einer Favela aufgewachsen; wie man liest, ist er nur vier Jahre lang in die Schule gegangen und hat sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten. Einen Aufstieg, das Hervortreten "aus dem Schatten" schafft keiner seiner Protagonisten, auch wenn manche von ihnen von einer Fußballkarriere träumen. Ihnen knallt weiter die unerbittliche Sonne auf den Kopf, die schon zum Symbol von Plackerei wurde, als die Balljungen auf dem Tenniscourt noch Baumwollpflücker waren.

Für die Jungs ist nichts schlimmer, als aus dem eigenen Viertel verstoßen zu werden - so endet die letzte Geschichte, in der ein junger Dealer die Nerven verloren und einen Junkie niedergeschossen hat. Für seine mangelnde Selbstkontrolle wird er von seinem Chef und den Kollegen abgestraft, indem er sein Viertel verlassen muss - alles, was er hat.

Der Autor wird als neue Stimme eines brasilianischen Realismus gefeiert

Sprachlich dreht Geovani Martins sehr schöne Schleifen. Wenn er zum Beispiel das ganz besondere "High" beschreibt, das daraus besteht, dass man glaubt, nicht high zu sein. Und über nichts anderes mehr reden kann, sondern nur in immer gleichen, wiederkehrenden Gesprächen sich darüber unterhält, wann und wo man den nächsten Joint herkriegt. Etwas nervig findet der Erzähler diese Gespräche. "Aber manchmal spielte ich auch mit, und dann merkte ich, wie viel Spaß es machte, auswendig gelernte Dialoge zu führen."

Eine andere Schleife dreht Martins für Fans des Begriffs "Erwartungserwartungen", den der Soziologe Niklas Luhmann für besonders komplizierte, wechselseitig sich verstärkende soziale Begegnungen prägte. In Gedanken versunken geht der Erzähler die Straße entlang, als er auf einmal hochschreckt, weil sich eine Frau, die an ihm vorbei geht, erschreckt. Dann bemerkt er, dass er selbst die Bedrohung darstellt, den Grund des Erschreckens. Dass ihm ohne sein Zutun mit Angst, Vorurteilen, Argwohn begegnet wird, nur weil er ein junger Mann aus der Favela ist, das treibt ihm Tränen in die Augen und macht ihn wütend. Und so folgt er seinem Impuls und geht der alten Dame noch eine Weile nach, tut so, als hätte er es auf ihre Handtasche abgesehen, weil es eben das ist, was sie von ihm denkt.

Geovani Martins wird als neue Stimme eines brasilianischen Realismus gehandelt. Es muss Spaß machen, ihn im Original zu lesen. Er erzählt ohne Wehleidigkeit, ohne Wut, dafür mit bestechender Klarheit und Impulsivität, er wirkt nicht nur authentisch, sondern auch sympathisch. Die deutsche Ausgabe hingegen ist weniger ein packender Realismus als vielmehr eine realexistierende Übersetzung. Aufmerksamkeit erregte das Buch auch dadurch, dass Martins im brasilianischen Original Slangausdrücke verwendet, die man selten auf Papier sieht, die auch der brasilianische Durchschnittsleser kaum versteht, weil sie sich mitunter von Stadtteil zu Stadtteil unterscheiden.

Das stellt einen Übersetzer vor Herausforderungen. Im Deutschen wird aus dem Slang beinahe das Gegenteil: eine ambitionslose Umgangssprache, Pausenhofgeplänkel. Teilweise wirkt die Sprache grundlos ungelenk. Wenn jemand sich "mehrfach zusammenreißt", dann stellt man sich beim Lesen leider Zuckungen vor. Und den Teenager will ich sehen, der "einen Joint durchziehen" will, wenn er ihn auch einfach rauchen könnte, oder im Jahr 2019 Kokain "schnupft". Von daher, schade.

Geovani Martins: Aus dem Schatten. Erzählungen. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Nicolai von Schweder-Schreiner. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 125 Seiten, 18 Euro.

© SZ vom 08.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: