Birgit Birnbachers Roman "Wovon wir leben":Sinn und Sinnlosigkeit

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Die österreichische Autorin Birgit Birnbacher gewann 2019 den Bachmann-Preis mit ihrem Text "Der Schrank". (Foto: Robert Haas)

Birgit Birnbacher schildert in "Wovon wir leben" die Krise des arbeitenden Menschen, allerdings mit allzu sozialkundehaften Mitteln.

Von Hanna Engelmeier

Es gibt in Birgit Birnbachers Roman "Wovon wir leben" eine Szene, in der die Ich-Erzählerin ihren pflegebedürftigen Bruder wäscht: Sie bereitet eine Lauge mit der Handseife des Vaters zu, fährt mit einem Waschlappen behutsam über das Gesicht ihres Bruders, reinigt weiter den ganzen Körper, jede Stelle wird wie in einem meditativen Körperscan genannt, Hände, Finger und Nagelbette. Die Intimität dieser Szene entsteht dadurch, dass Birnbacher zurückhaltend und beinahe protokollarisch dokumentiert, wie eine Pflegesituation gelingen kann: Durch die respektvolle Berührung eines anderen Körpers, durch die Berücksichtigung eines jeden Nagelbetts.

Was sich in dieser Szene an Fürsorge zeigt, ist das, was überall sonst fehlt, vor allem in der entfremdeten Arbeitswelt, die auch Thema des Buches ist. Die Erzählerin arbeitet als Krankenschwester, leidet in der Romangegenwart aber an erschöpfungsbedingter Atemnot und zieht zurück zu ihren Eltern aufs Dorf.

Wir leben davon, dass Frauen Pflegesysteme und Familien am Laufen halten

Birnbacher begleitet ihre Erzählerin Julia einen Sommer lang bei dem Versuch, sich davon zu erholen, dass sie in einer Welt aufgelaufen ist, in der schon lange kein Hahn mehr nach dieser Art von ernsthafter Hinwendung kräht und die Menschen als bloße Inhaber von Arbeitskraft behandelt. Unter "Hinweise" gibt Birnbacher am Ende des Buches an, in welcher Tradition sie sich selbst dabei einordnet. Mit der Studie "Die Arbeitslosen von Marienthal" von Marie Jahoda und Paul Lazarsfeld aus dem Jahr 1933 nennt sie hier eines der Pionierwerke der empirischen Sozialforschung, das sich dem Elend österreichischer Industriearbeiter widmet.

Die grundstürzenden Veränderungen von Industrie und Arbeit durch globale Verflechtung, Digitalisierung, Schwächung gewerkschaftlicher Organisation oder veränderter Lebens- und Wohnsituationen in der Arbeiterschaft seitdem spielen bei Birnbacher keine Rolle, ihre Sache ist die der exemplarischen Biografie. Im Dorf lernt Julia "den Städter" kennen. Er kann nach einem leichten Herzinfarkt ebenfalls keiner Erwerbstätigkeit nachgehen, aber ist nicht bereit, sich die Laune davon verderben zu lassen.

Er hat für ein Jahr ein bedingungsloses Grundeinkommen gewonnen, das ihn zu Sentenzen über Arbeit inspiriert, die auf Julia provokativ wirken müssen: "Dass Arbeit den Menschen 'den Menschen als Ganzes ansprechen', 'zum Klingen bringen' müsse, hat er gesagt, und ich habe geschwiegen, nicht, um mich zu enthalten, sondern weil es still war in mir. Krankenschwester war ich immer als Ganzes. Arbeitslos bin ich nur am Papier."

Birgit Birnbacher: Wovon wir leben. Roman. Zsolnay, Wien 2023. 192 Seiten, 24 Euro (Foto: Zsolnay)

Birnbacher schreitet in ihrem Roman eine ganze Reihe von Arbeitsformen und -bereichen ab, die unter Stichworten wie Sorgearbeit, Beziehungsarbeit, Niedriglohnsektor und Pflege insbesondere seit Beginn der Coronapandemie in der Diskussion sind. Modelliert wird dabei vor allem der Anteil, den Frauen dabei haben, unter ständiger Überschreitung der Grenzen ihrer Kräfte Familien und Pflegesysteme aufrechtzuerhalten. Davon leben wir, postuliert Birnbachers Roman. An seinem Ende findet das kurze Freiheitsstreben von Julias Mutter ein Ende, als ihr Vater zum Pflegefall wird und keine andere als seine eigene Ehefrau als Pflegende akzeptiert.

Birnbacher führt das Elend einer nicht "am Menschen" orientierten Pflege auf zu viel Papierkram zurück. Der riesige Bereich von Büroarbeit, von dem doch auch so viele leben, spielt im Roman keine Rolle, vielleicht weil er sich für die Problematisierungen von Arbeit, um die es hier geht, nicht so gut eignet. Die Entfremdung in Arbeitswelt und sozialen Beziehungen sowie die dörfliche Borniertheit, die Birnbacher zeigt, ist in der Gegenwart ebenso anzutreffen wie schon 1933.

Die Figuren dürfen nicht mehr sein als Vertreter ihrer Klasse

Das eigentliche Thema aber, das Birnbacher behandelt, ist der Verlust von Sinn, der sich durch den Verlust von Arbeit lediglich manifestiert. Dass Birnbacher auf diese Dimension zielt, zeigt sich an aus dem asketischen Stil des Textes herausragenden Formulierungen wie dem Wunsch der Erzählerin nach der "Hinwendung zur Kreatur", aber auch in der nicht eben sparsam verwendeten Tiersymbolik. Ihr Aufenthalt im Elternhaus wird durch die Sorge um eine von Nachbarn gehaltene Ziege begleitet, deren scheinbar grundloses Schreien durch die Hinwendung von Julia ein Ende findet. Weiterhin durchdringt den trostlosen Ort ein Gestank, der nach einer Weile auf den verwesenden Kadaver einer Kuh zurückgeführt werden kann: Dieser wird in Plastiksäcke verpackt und von der Kadaververwertung abgeholt. Auch eine Arbeit, die jemand machen muss.

Denkt mal drüber nach!, scheint der Roman seinem Publikum an diesen Stellen zuzurufen um sicherzustellen, dass es nicht die Entschlüsselung eines dritten Tiersymbols verpasst: Der südafrikanische Maskenweber, ein Vogel, dessen beständiger und größtenteils funktionsloser Nestbau nicht restlos erklärt werden kann, taucht schon auf den ersten Seiten des Romans auf, "als Symbol für Arbeit von Tieren ohne Zusammenhang", wie die Hinweise am Ende aufklären.

Ebenso wie diese Tiere fest eingespannt sind in ihre Funktion als Symbole für bestimmte Aspekte des Romanthemas sowie für seine Bedeutungsschwere, haben auch alle Figuren hier zunächst ihre Rolle zu spielen. Sie können wenig anderes werden als prototypische Vertreter ihrer Klasse und den dazu passenden Berufen: Wirt, Architektin oder Grafikerin. Birnbachers knappe Skizzen sind prägnant an der Grenze zur Karikatur, von der sie jedoch immer Sicherheitsabstand zu wahren weiß. Sie hält fest zu jeder Einzelnen ihrer Figuren und denunziert auch die unangenehmsten niemals. Es wäre nur so schön zu sehen, wie sie sich verhalten würden, müssten sie nicht vor allem die Erkenntnisse einer älteren empirischen Sozialforschung ausagieren, aufbereitet für den Gemeinschaftskundeunterricht.

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