Biografie:Träumer einer besseren Welt

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Hans Christian Andersen wollte Schauspieler werden. Seine Bemühungen in Kopenhagen scheitern jedoch. Statt dessen finanzieren ihm seine Gönner eine Schul- und Universitätsausbildung. (Foto: dpa)

Hans Christian Andersen steigt aus ärmlichen Verhältnissen zum gefeierten Dichter auf. Seine Märchen stecken voll autobiografischer Elemente.

Von Evi Buddeus

Die Eltern sind so arm, dass sie dem Kind nicht einmal den Schulbesuch zahlen können. Doch Hans Christian Andersen (1805 - 1875) bringt es trotz seiner Herkunft zum weltberühmten Dichter, zum dänischen Nationalhelden, dessen Werke in über 150 Sprachen übersetzt werden. Damit zählt der Däne zu den meistgelesenen Autoren der Welt.

Gerade als Märchendichter wird er bekannt. Das hässliche Entlein kennt fast jeder, auch die Geschichte der Schneekönigin oder der kleinen Meerjungfrau. Dabei bilden die 168 Märchen nur einen kleinen Teil seines literarischen Schaffens, er verfasst Dramen, Romane, mehrere Reiseberichte sowie etwa 1000 Gedichte. Das Klischeebild von Andersen als Märchendichter verfestigt sich schon zu seinen Lebzeiten. Dabei verwirft Andersen die klassischen Gattungsgrenzen und montiert literarische Genres. Er collagiert Märchen in einen Reisebericht, spielt mit dem Wechsel von Erzählerperspektiven. "Das wunderbarste Märchen ist das Leben selbst", schreibt er und verarbeitet umgekehrt in seinen Märchen autobiografische Motive.

Das sind erst einmal keine schönen Motive. Hans Christian Andersen kommt am 2. April 1805 in Odense auf der dänischen Insel Fünen in einem armen Elternhaus zur Welt. Der Vater ist Schuhmacher, die Mutter verdient hinzu, dennoch kann der Junge nur die Armenschule besuchen. Seine lebhafte Fantasie lebt er zu Hause aus, er baut, unterstützt vom Vater, Puppentheater und stattet die Figuren mit selbstgenähten Kostümen aus. In dieser Zeit entstehen auch die ersten Scherenschnitte. Als Andersen elf Jahre alt ist, stirbt sein Vater. Der Ausruf seiner Mutter "Die Schneekönigin hat ihm mitgenommen" ist eine seiner vielen Kindheitserinnerungen, die Andersen später verarbeitet.

Mit dem Tod seines Vaters beginnt die Mutter als Waschfrau zu arbeiten, die schwere Arbeit im kalten Wasser verstärkt ihren Alkoholismus, an dem sie 1833 stirbt. Später verarbeitet Andersen die miserablen Lebensbedingungen seiner Mutter in seinem Märchen "Sie taugte nichts". Andersen selbst kommt in der Arbeitswelt nicht zurecht, zweimal bricht er das Arbeitsverhältnis nach wenigen Tagen ab.

Am 4. September 1819, mit 15 Jahren, macht sich Andersen nach Kopenhagen auf, er will am Theater sein Glück machen. Sein Glück macht er, aber anders als gedacht. Andersen hat ein Gespür dafür, Kontakte zu knüpfen, und verschafft sich innerhalb weniger Wochen gezielt Zugang zu einflussreichen Leuten, die ihn seinem Traum von der Bühne näherbringen. Doch seine Bemühungen, als Schauspieler, Tänzer oder Chorsänger zu arbeiten, scheitern. Der Direktor des Königlichen Theaters Jonas Collin (1776 - 1861) wird zu seinem Förderer und ermöglicht Andersen eine fundierte Bildung - auch wenn der junge Dichter sehr unter seinem Schulmeister Simon Meisling leidet. Das Universitätsstudium zahlt dann der dänische König Friedrich VI., später erhält Andersen auch ein Künstlerlegat. Das aufgeklärte Kopenhagener Bürgertum dürfte Andersen nach Jean-Jacques Rousseaus pädagogischem Ideal als Naturkind gesehen haben, "... das fern von städtischer Zivilisation und gesellschaftlichen Zwängen aufwachse und über diese Freiheit zur Selbstentfaltung finde".

In dieser Zeit schreibt Andersen sein erstes, unveröffentlichtes Märchen vom Talglicht, dessen Manuskript erst 2012 gefunden wurde. Seinen ersten Erfolg feiert der Dichter 1829 mit der fantastischen von E.T.A. Hofmann inspirierten Erzählung "Spaziergang vom Holmen-Kanal zum östlichen Punkt von Amager in den Jahren 1828 und 1829".

Mithilfe eines staatlichen Reisestipendiums macht er sich Anfang der 1830er-Jahre erstmals auf den Weg. Er besucht im Laufe seines Lebens mehr als 30 Länder und verbringt immer öfter Zeit in Deutschland. Auf einer Tour durch Italien besucht er Florenz, Rom und Pompeji, lernt Dichter, Musiker, Schauspieler und bildende Künstler kennen, darunter auch seinen Landsmann, den klassizistischen Bildhauer Bertel Thorvaldsen (1770 - 1844), ein Vorbild seit Jugendtagen. Viele von Andersens literarischen Werken sind beeinflusst durch seine Reisen. Sein Romandebüt, die in Italien begonnene Reiseerzählung "Der Improvisator", ist 1835 ein großer Erfolg. Zur Beschreibung der Amalfi-Küste stützt er sich vor allem auf seine vor Ort angelegte Federzeichnung: "Vom Ufer bis hoch den Berghang hinan hängt die Stadt mit ihren weißen Häusern und den flachen morgenländischen Dächern. Höher hinauf steigen die Weinberge; eine einsame Pinie reckt ihren grünen Schirm in die blaue Luft."

Vincent van Gogh liebt die Geschichten des Dänen

Andersen war ein Augenmensch, und wie andere Literaten seiner Zeit verfügt er über eine Doppelbegabung, die er bereits zu seiner Schulzeit so beschreibt: "Du Allnatur, zu meinem Herzen sprich, / Es muss heraus: Ein Maler bin auch ich!" Sein prominenter Leser Vincent van Gogh vermutet 1882 in einem Brief an den Malerfreund Anthon van Rappard: "Findest Du nicht auch, dass die Märchen von Andersen herrlich sind? - Ich bin sicher, er zeichnet auch Illustrationen." Doch Andersen lebt seine bildkünstlerische Seite nur privat aus. Zeichnungen, Scherenschnitte und Buchcollagen verschenkt er an Bekannte.

Andersens früh erlanger Ruf als Märchendichter entspricht nicht seinem Selbstbild, er sieht sich als Autor für alle Altersklassen. In seinen Werken geht es ihm darum, das Wunderbare in die Wirklichkeit des Alltags zu holen. In Form des Kunstmärchens transportiert er jedoch oft sozialkritische Inhalte. Auch die technischen Entwicklungen interessieren ihn: Schon 1840 feiert er seine erste Eisenbahnfahrt. Er ist mit Hans Christian Ørsted, dem Entdecker des Elektromagnetismus, befreundet. Den Traum vom Fliegen, der es eines Tages ermöglichen würde, von Amerika nach Europa in nur wenigen Tagen mit dem "Luftdampfer" zu reisen, verarbeitet er in dem Märchen "In Jahrtausenden".

Andersen bleibt unverheiratet. Ob es unerfüllte Liebe war oder Homosexualität, das wird in der Wissenschaft immer wieder diskutiert. Sicher ist, dass er Zeit seines Lebens unter Ängsten leidet. Er soll sich nicht schlafen gelegt haben, ohne auf seinen Nachttisch einen Zettel zu legen mit den Worten: "Ich bin nur scheintot." Auf seinen Tod ist der krebskranke Dichter vorbereitet. Einige Monate zuvor lässt er von sich Fotografien anfertigen und beauftragt die Komposition von Trauermusik mit der Vorgabe, dass auch Kinder mit kleinen Schritten dem Sarg folgen können. Am 4. August 1875 stirbt er.

© SZ vom 19.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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