Biografie:Leben als Theater

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Alexeij Sagerer, Gründer und Leiter des ProT. (Foto: Robert Haas)

Ralph Hammerthaler hat ein Buch über Alexeij Sagerer geschrieben

Von Eva-Elisabeth Fischer, München

Alexeij Sagerer langt hin, wenn er was macht, mit kräftiger Pranke. Hinlangen ist ein Teil seines anarchischen Temperaments, das in zahllosen Theaterstücken kreativ seinen Ausdruck findet. Es ist ein Theater, großartig und wortkarg schillernd zwischen Kunstinstallation und rauschigen Bühnenspektakeln, Documenta-geadelt, aber noch unter Frank Baumbauer nicht Kammerspiel-würdig. Seine Spektakel, nicht selten von der Dauer mittelalterlicher Mysterienspiele, tragen Titel wie "Nomaden und Helden", "Reines Trinken - Gottsuche" oder "Weißes Fleisch". Wenn Sagerer hinlangt, dann auch schon mal destruktiv, weshalb er Anfang der Siebzigerjahre eineinhalb Jahre in Landsberg einsaß - für die Vergewaltigung einer seiner Schauspielerinnen im Suff. Aber auch im Knast hat er Theater gemacht, Büchners "Danton", und damit wahrscheinlich das letzte Mal ein literarisches Drama inszeniert. Mit einher ging notgedrungen der lebensrettende Alkoholentzug.

Wie es ist, wenn Sagerer tätlich hinlangt, kriegen auch seine Nächsten zu spüren, wie zum Beispiel derjenige, dessen Buch dem Phänomen Sagerer sehr nahe kommt: Er kriegte eine gelangt. Der Autor und das Objekt seiner Untersuchungen legen in vielerlei Hinsicht die gleiche Ausdauer an den Tag. Als da ist der in Berlin lebende freie Schriftsteller Ralph Hammerthaler, der in diesem Fall die Rolle des Feldforschers übernommen hat. Sein Metier ist das Nachdenken und Aufschreiben. Auf der anderen Seite ist da dieses niederbayerische heilige Monstrum namens Alexeij Sagerer, dessen Arbeit im Nachdenken und der spontanen Vertheaterung des Gedachten besteht. Die beiden Männer haben sich ganze zwei Jahre lang aufeinander eingelassen. Sie wurden Wodka-trinkend zu Komplizen. "Dieses Buch ist ein Komplizenstück", schreibt Hammerthaler denn auch gleich zu Anfang von 300 eng in unzumutbar winzigen Lettern bedruckten Seiten. Und auch, dass von Objektivität keine Rede sein könne. Wobei es erstaunt, dass ihm über dem Hochprozentigen die Augen nicht glasig wurden, ihm der Blick nicht verschwamm bei so viel Nähe.

Herausgekommen ist also das Buch "Alexeij Sagerer. Liebe mich - wiederhole mich. Künstlerische Biografie", die das Biografisch-Anekdotische von Münchens gewichtigstem Off-Theater-Macher als untrennbar von seiner künstlerischen Entwicklung aufrollt. Bis heute behauptet sich Sagerer zumindest als gelegentlich miss- und unverstandener brachialer Antagonist zum Literatur- und Regietheater, das hier Repräsentationstheater heißt. Fünf Kapitel hat dieses Buch, dessen letztes mit "Das Fest" überschrieben ist. Denn dionysische Sinnlichkeit prägt Werk und Leben. Deshalb taugten auch die Namen seiner fünf Frauen, bei denen Sagerer im Laufe der Jahre jeweils Wärme und Wohnung fand, mindestens ebenso gut als Kapiteltitel. Mit zweien hat er Kinder, zwei Töchter mit der ersten, einen Sohn mit der fünften.

Man liest sich also ein in Hammerthalers sorgsam komponierte, süffig geschriebene Sagerer-Schau, beginnend mit der Familie, in die Alexeij, 1944 in Plattling geboren, auf den Namen seines Vaters Rudolf getauft wurde. Einziger Ausrutscher in dieser wohlsituierten gutbürgerlichen Familie, die im Zentrum Plattlings ein angesehenes Modehaus ihr Eigen nannte, waren die homophilen Neigungen des Vaters. Es war noch im Elternhaus, dass sich der Vielleser Rudolf nach dem wichtigsten der Brüder Karamasow in Alexeij umbenannte. Und als solcher verließ er die Stadt 1965 erst einmal nach Gauting, wo er sich während seiner Schauspielerausbildung mit Gelegenheitsjobs durchschlug - ebenso wie während seiner Zeit in England. Bis er dann in München landete. Hier begann er sein Lebenswerk, das er nun schon 47 Jahre lang vorantreibt, das proT mit wechselnden Spielstätten, und erschuf unter diesem viel- und immer falsch ausgelegten Namen einen künstlerischen, sehr politischen Kosmos aus Video, Film, Ton, Text und viel Laienschauspieler-Fleisch-und-Blut, das "unmittelbare Theater".

Hammerthaler braucht viel Platz, um diesen Begriff inhaltlich zu füllen, nennt als Inspirationen dafür Antonin Artauds grausames Theater wie auch das arme und dabei hochpathetische Theater Jerzy Grotowskis und Peter Brooks Bilderepen starker Menschendarsteller im leeren Raum. Aber mehr noch als die Exkurse in die Theorie des postdramatischen Theaters, der Performance und Installation erklärt ein einziger Satz das Movens für Sagerers sinnliche Theaterwelten, in denen Fernseher implodieren, Frauen stundenlang duschen oder Männer Bier trinken bis zum Umfallen: "Dafür, dass das Leben Leben sein kann, ohne gelenkt, gedrückt und entstellt zu werden, macht Alexeij Theater", schreibt Hammerthaler und nimmt gleich wieder Zuflucht zu einem seiner Kronzeugen, dem Philosophen Gilles Deleuze: "Pointiert betrachtet, ist Deleuze ein Existenz-Philosoph, so wie Sagerer ein Existenz-Theatermacher ist".

Und weiter: "Das Theater der Wiederholung tritt dem Theater der Repräsentation gegenüber." Womit man endlich beim titelgebenden Stück angelangt wäre, bei "Liebe mich! Wiederhole mich!", in dem die Wiederholung das Leben und der Tod das Einmalige ist. Man erfährt also viel von und durch Alexeij Sagerer, vom Leben und dem Theater und dem Leben als Theater, trefflich zugänglich gemacht von einem hartnäckig ausdauernden Freund.

Ralph Hammerthaler: Alexeij Sagerer. Liebe mich - wiederhole mich. Künstlerische Biografie, Verlag Theater der Zeit, 304 Seiten, 20 Euro

© SZ vom 22.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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