Biografie:Eine Frau ohne Netz

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Alois Prinz: Ein lebendiges Feuer. Die Lebens- geschichte der Milena Jesenká. Verlag Beltz & Gelberg, Weinheim 2016. 230 Seiten, 17,95 Euro. (Foto: verlag)

Alois Prinz erzählt die Geschichte der Milena Jesenska, die als Freundin von Franz Kafka bekannt wurde.

Von Kristina Maidt-Zinke

Natürlich hätte er, Franz Kafka, am allerwenigsten gewollt, dass seine "Briefe an Milena", dieses Dokument einer kurzen, intensiven, aber unlebbaren Liebesgeschichte, veröffentlicht würden und literarische Unsterblichkeit erlangten. Doch genauso kam es, und sie, Milena Jesenská, wurde dadurch weltberühmt. Dass auch die feministische Bewegung auf sie aufmerksam wurde, war nur konsequent, denn sie war, ganz abgesehen von ihrer Beziehung zu dem Jahrhundertdichter, eine außergewöhnliche Frau. Es gibt diverse Biografien, Studien und Aufsätze über die tschechische Journalistin, die 1896 als Professorentochter in Prag zur Welt kam und 1944 im Konzentrationslager Ravensbrück starb. Und zweifellos ist ihr Lebensgang geeignet, junge Menschen zu faszinieren, sofern sie noch Kapazitäten frei haben für das, was jenseits der medialen Dauerbeanspruchung liegt.

Stets geht es dem Autor darum, Klischeevorstellungen aufzubrechen

So überrascht es nicht, dass der Literaturwissenschaftler und Philosoph Alois Prinz, der biografische Arbeiten zu so unterschiedlichen Protagonisten wie Teresa von Avila, Georg Forster, Hannah Ahrendt, Ulrike Meinhof, Paulus, Joseph Goebbels, Hermann Hesse, Franz Kafka und Jesus verfasst und dafür viel Lob geerntet hat, nun bei Milena Jesenská angekommen ist. Da er sich auch bei seinen Recherchen für die Lebensgeschichte von Franz Kafka "Auf der Schwelle zum Glück" mit ihr beschäftigt hat. Prinz publiziert seine "Lebensgeschichten" in einem auf pädagogische Fachliteratur und Jugendbücher spezialisierten Verlag, aber die Werke zeichnen sich dadurch aus, dass sie auch von Erwachsenen mit Gewinn gelesen werden können.

Die akribische Recherche, das Bemühen um Faktentreue und ein nüchterner, gleichwohl anschaulicher Erzählton unterscheiden sie von allen Versuchen, prominente Lebensläufe in Romanform zu sentimentalisieren oder didaktisch aufzubereiten. Stets geht es dem Autor auch darum, Klischeevorstellungen aufzubrechen, Widersprüche offenzulegen und das historisch-gesellschaftliche Umfeld der Porträtierten auszuleuchten.

Mit Drogen und Diebstählen unterlief sie jede Erwartung an ein Mädchen aus gutem Hause

Über Milena schrieb Franz Kafka an seinen Freund Max Brod: "Sie ist ein lebendiges Feuer, wie ich es noch nie gesehen habe. Dabei äußerst zart, mutig, klug, und alles wirft sie in das Opfer hinein oder hat es, wenn man will, durch das Opfer erworben." Zwar heißt das Buch nun, sehr poetisch "Ein lebendiges Feuer", aber Prinz trennt zwischen der Wahrnehmung des Liebenden und seiner eigenen Sicht; er arbeitet mit vielen Zitaten und hält sich mit Deutungen und Wertungen zurück. Was für ein Mensch Milena Jesenská war und wie sie auf ihre Umgebung gewirkt haben mag, soll der Leser sich selbst erschließen.

Was er erfährt, ist mehr als genug, um ein facetten- und nuancenreiches Bild entstehen zu lassen. Und um Fragen aufzuwerfen, die Franz Kafka sich kaum gestellt haben dürfte.

Die Episode zwischen den beiden - sie war 24 Jahre alt, als es begann - bestehend aus einem dreijährigen Briefwechsel und zwei Treffen, fiel in die Zeit, in der Milena mit dem zehn Jahre älteren Kaffeehausliteraten und Bonvivant Ernst Polak verheiratet war. Ihr Vater hatte das verhindern wollen, indem er die Tochter in die Psychiatrie einweisen ließ. Zuvor hatte sie mit dem Abbruch ihres Medizinstudiums, mit Drogenexperimenten und Diebstählen jede Erwartung an ein Mädchen aus gutem Hause unterlaufen. Schon damals zeichnete sich ab, dass sie unbeugsam, unkonventionell und allen Schicksalsschlägen zum Trotz ihren Weg verfolgen würde.

Zwei weitere gescheiterte Ehen, eine Gehbehinderung mit nachfolgender Medikamentensucht, die schwierige Existenz als politische Journalistin im Widerstand gegen den vordringenden Faschismus, der tätige Einsatz für Verfolgte und Gefährdete, die KZ-Haft, während der sie anderen Frauen durch gefälschte Diagnosen das Leben rettete, schließlich ihr früher Tod nach einer Nierenoperation im Lager - das alles fügt sich zu einem Frauenschicksal, dessen Härte einem streckenweise den Atem raubt.

Daneben imponiert die Lebensklugheit und geistige Unabhängigkeit, die Milena in ihren eigenen Briefen (etwa an den Vater und die Tochter Honza aus dem Konzentrationslager Ravensbrück) offenbart, ebenso wie ihre Fähigkeit zur Freundschaft und ihre leidenschaftliche Sorge für andere. Margarete Buber-Neumann, die sich mit ihr in Ravensbrück anfreundetet, erzählt davon in ihrem Buch "Milena - Kafkas Freundin". Vielleicht war es das, was Kafka mit dem Wort "Opfer" meinte. Aber es führt in die Irre: Weder war diese Frau ein Opfer, noch opferte sie sich auf - für beides war sie viel zu stark. (ab 14 Jahre und für Erwachsene)

© SZ vom 18.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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