Bildungsaufsteiger II:Entthronte Götter

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Annie Ernaux hat die soziologisch grundierte Selbsterforschung zur Meisterschaft gebracht. Nun erscheint ihr zentrales Werk "Die Scham".

Von Hanna Engelmeier

Mit "Die Scham" erscheint der fünfte Band von Annie Ernauxs autobiografischer Prosa. Seit 2017 entdeckt der Suhrkamp Verlag die 1940 geborene französische Autorin wieder. Eine frühere Übersetzung eines ihrer Bücher im Fischer Verlag ("Das bessere Leben", 2019 als "Der Platz") hatte 1986 anscheinend nicht ausreichend Beachtung gefunden, um das Werk der französischen Schriftstellerin zu verfolgen. Im Windschatten des Erfolges von Didier Eribons Essay "Rückkehr nach Reims" (2016) traute man knapp dreißig Jahre später auch in Deutschland Texten, die autobiografische und soziologische Reflexion verbinden, ein größeres Publikum zu. Tatsächlich gilt Ernaux seitdem als überragende Vertreterin dieses Genres und ihre Bücher sind zum zentralen Bezugspunkt aktueller Diskussionen über Autobiografien geworden.

Der Kern von "Die Scham" ist die Szene, mit der es schlagartig anfängt: "An einem Junisonntag am frühen Nachmittag wollte mein Vater meine Mutter umbringen." Auf diesen ersten Satz folgt die Schilderung eines Wutausbruchs beim Mittagessen, vor dem die zwölfjährige Annie flieht. Durch die Hilferufe ihrer Mutter alarmiert, eilt sie später in eine Kammer ihres Elternhauses, in dem sich auch die Wirtschaft und der Laden befinden, die die Eltern betreiben. Sie findet ihren Vater vor, wie er ihre Mutter zu erwürgen droht. Er lässt von ihr ab. Dann wird über den Vorfall vor Annie nicht mehr gesprochen, die diese Szene jedoch nicht verwinden kann. Den Sommer des Jahres 1952 über nicht, in dem sich dieses Ereignis abspielte, und auch danach quält sie sich weiter mit der Erinnerung. Indem sie "Die Scham" schreibt, erkämpft sie sich den Ausweg.

Der Begriff "Familientrauma" kann die Szene nicht entschärfen

Ernaux versucht nicht, die Tat oder ihre Eltern zu psychologisieren, sie weist vielmehr darauf hin, dass ihr jede Form der Psychoanalyse dabei verfehlt erschiene. Bereits in "Der Platz" und "Eine Frau" (neu übersetzt 2019) war sie der Biografie ihrer Eltern und damit der Frage nach gegangen, aus welcher Klassenlage sie sich zunächst mit ihrem Brotberuf als Lehrerin, dann als Schriftstellerin entfernte. "Die Scham" setzt diese Untersuchung fort. Entscheidend an der Auseinandersetzung mit dem Grauen der Szene aus dem Juni 1952 ist für Ernaux, was durch den blitzartigen Einschlag der Gewalt in ein ganz durchschnittliches Mittagessen sichtbar wird: "Zu sagen, 'es handelt sich um ein Familientrauma' oder 'an jenem Tag wurden die Götter der Kindheit entthront', kann die Szene nicht entschärfen, und nur der Ausdruck, der mir damals kam, ins Unglück stürzen, kann sie wiedergeben."

"Die Scham" beschreibt die Geschichte der großen und nicht rückgängig zu machenden Entfremdung eines Individuums von seiner Herkunft, den Verlust des Gefühls von sozialer Zugehörigkeit. Je nach Geschmack könnte man auch von Entwurzelung reden, verließe dabei aber die Kargheit der Sprache Ernauxs, die Schmerz vor allem spürbar macht, indem sie sich keine Sentimentalität und keine Schnörkel gönnt. Dass dieser frugale Stil auch im Deutschen wirksam werden kann, ist der Übersetzung Sonja Fincks zu verdanken.

Nachdem Ernaux ihren Vater einmal als Täter erlebt hat, erkennt sie seine Schwäche. Die besteht vor allem in einer mangelhaften sozialen Flexibilität, der Unfähigkeit zur Anpassung an jedes Milieu, das nicht das eigene ist. Zum Problem wird das vor allem, wenn er auf Personen trifft, die er als überlegen, weil reicher an allen Kapitalsorten empfindet, für die er sich selbst sein Leben lang krumm gelegt hat: Geld, Bildung, Umgangsformen.

Unübersehbar wird das auf einer Bildungsreise, auf die die Mutter Tochter und Vater noch im Jahr 1952 schickt. Sie fahren mit dem Bus nach Lourdes, Tours und in andere bedeutende französische Städte. Während die Tochter jedem neuen Hotelzimmer entgegenfiebert (fließendes Wasser! Warm! Kalt! Auf einmal!) und bemerkt, dass sie sich an die täglichen Speisen, die man nicht selbst zubereiten muss, gewöhnen könnte, ist der Vater eingeschüchtert. Er hat nicht die richtigen Witzchen parat, als Proviant führt er für sich und die Tochter Zuckerwürfel und Pfefferminzlikör mit (statt Keksen und Schokolade). Das Tagesgeld reicht nicht für die Ausflüge. All das kann die Tochter erst retrospektiv in ihrer Schilderung der Reise erkennen. Währenddessen herrscht zwischen ihr und ihrem Vater Schweigen über die eigene Lage: Nachdem er es geschafft hat, sich vom Fabrikarbeiter zum Ladenbesitzer hochzuarbeiten, muss er sich nun vor den Augen seiner Tochter von bürgerlichen Mitreisenden als Ausflugsdilettant deklassieren lassen.

Ernaux gibt sich selbst als Repräsentatin ihres Milieus der Analyse preis

Die Einsamkeit in diesem Schweigen beschreibt Ernaux ebenso beklemmend wie diejenige, die sie als Schülerin eines katholischen Lycées erlebt, das "die gute Schule" vor Ort ist, und auf das sie ihre Mutter schickt, um einen Bildungsaufstieg wenigstens für ihre Tochter zu erreichen. Dort herrschen Prüderie und Körperfeindlichkeit. Strenge Nonnen lassen sich durch Märtyrerlegenden zu Tränen rühren, nicht aber durch die Mädchen, die sie unterrichten, und deren Pubertätsnöten sie nicht einen Millimeter Raum geben.

Annie Ernaux: Die Scham. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 110 Seiten, 18 Euro. (Foto: N/A)

Ernaux bedient sich zur Analyse ihrer Erinnerungen immer wieder der Fotografie: Porträts, die das Mädchen von 1952 zeigen, sind der Ausgangspunkt für die Formatierung ihrer Biografie. Dass allein die Anzahl der vorhandenen Fotografien und biografischer Dokumente einer Person wirksam aufzeigen können, wie diese gesellschaftlich zu verorten ist, braucht bei Ernaux keine soziologische Analyse. Es wird durch ihre Montage literarischer Schnappschüsse eines Lebens augenfällig.

Damit macht Ernaux ein gewagtes Angebot: Sie gibt sich selbst als Repräsentantin ihres Milieus der Analyse preis, Wissen über die Klassenlage kondensiert sie in ihrer eigenen Person. Dadurch, dass sie sich selbst derartig als eine Sozialfigur entwirft, behält sie jedoch immer die Oberhand über ihre Biografie. Die gestaltet sie mittels aller Verdichtungsprozesse, die das Schreiben in dem Genre erfordert, das unter dem Schlagwort Autofiktion seit einigen Jahren ausführlich diskutiert wird.

Die Klassenzugehörigkeit ist mit Wertungen und Gefühlen verbunden

Damit besetzt Ernaux nicht nur im feministischen Diskurs den Platz einer Standardreferenz für die Frage, wie man in einem literarischen Text am besten Ich sagt. Ihr Verfahren kann auch einige wichtige Neuerscheinungen der aktuellen Saison verstehen helfen, die Autobiografisches nicht allein als individuelle Erinnerung, sondern als Ergebnis sozialer Prägung begreifen. Dazu gehören Christian Barons "Ein Mann seiner Klasse", Deniz Ohdes "Streulicht", oder, in einer anderen identitätspolitischen Wendung, Olivia Wenzels "1000 Serpentinen Angst".

All diese Texte geben Einblick in eine Erfahrung, die Ernaux für das "Mädchen von 1952" schildert, wie sie sich im Buch nennt. Sie erzählt von ihrer Klassenherkunft, in der es für sie nur eines im Überfluss gibt: "Nichts kann ungeschehen machen, dass ich diese Schwere, diese Erfahrung der Nichtung empfunden habe. Die Scham ist die letzte Wahrheit." Als Annie einmal von einer Lehrerin, die sie bewundert, nachts nach einem Schulfest nach Hause gebracht wird, öffnet ihre Mutter verschlafen die Tür, "mit zerzaustem Haar, verschlafen, in einem zerknitterten, fleckigen Nachthemd (wir benutzten unsere Nachthemden, um uns nach dem Urinieren abzuwischen)." Das fleckige Nachthemd ihrer Mutter verweist nicht vor allem auf die in der Familie gängige Toilettenhygiene, sondern darauf, dass die Anschaffung eines Bademantels als ein zu großer Luxus gilt. In Szenen wie dieser, die Ernaux in diesem Buch gesammelt hat, wird ihre Einübung in Unterscheidungen erkennbar, die nicht allein materielle Verhältnisse und damit Klassen markieren. Die Zugehörigkeit zu der einen oder der anderen Klasse ist mit Wertungen verbunden und die sind mit Gefühlen besetzt. Es gilt, damit einen neuen Umgang zu entwickeln. Die Literatur kann dafür ein Anfang unter anderen sein.

© SZ vom 24.08.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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