Jeden Tag, wenn der Junge mit der roten Mütze von der Schule nach Hause geht, begegnet er ihm, dem Mann im Schatten: Stolz, fast erhaben sieht er aus mit seinem stattlichen Bart und der engen Kappe. Aufrecht und stumm sitzt er "still in seiner dunklen Ecke, abseits des Lebens, und beobachtet". Vorübergehende bemerken ihn kaum, nur die Frau aus Haus Nummer 21 schenkt ihm Brot und Beachtung. Für das Kind ist der Mann eine verlässliche Station auf seinem Schulweg: "Mich beruhigt es zu wissen, dass er da ist, wie ein treuer Freund." Wenn er ihn ansieht, träumt der Junge von einem Land aus Sand und Wind, schattigen Oasen und Kindern, die barfuß spielen. Der Mann in der dunklen Ecke wird dann zu einem orientalischen König mit prächtigem Gewand, der "mit seinem freundlichen Blick auf die Welt schaut und lacht".
Nichtsesshafte, Stadtstreicher, Obdachlose, Penner: Bezeichnungen haben wir viele für jene am Rande der Gesellschaft. Und doch leben sie mitten unter uns, mittel- und namenlos. Mangel an Beachtung geht oft mit dem Verlust von Würde einher. Dem obdachlosen Ahmed, der im Winter 2006 in Paris den Kältetod starb, hat der französische Künstler Barroux mit dieser Geschichte nicht nur den Namen, sondern auch Achtung zurückgegeben. Mit der Unvoreingenommenheit des Kindes lässt er den bärtigen Mann aus seinem Schattendasein heraus ins Licht treten, verleiht ihm eine aufrechte Haltung, würdevolle Gelassenheit und Schönheit. Mit breitem, teilweise trockenem Pinsel legt Barroux transparente Übermalungen in kräftigen warmen und lichten Farben an, zeichnet Wüsten- und Städtelandschaften mit feinem Bleistiftstrich, kratzt Ranken und Wellen in die Farbe. So entsteht eine leuchtende Gegenwelt zu Ahmeds tristem Alltag auf der Straße; der Wunschtraum des kleinen Jungen von einer gerechteren Welt nimmt Gestalt an. Barroux studierte Fotografie, Kunst, Architektur und auf seinen Reisen die Besonderheiten verschiedener Kulturen. Diese Erfahrungen sind in seinen Bildern spürbar. Sein experimenteller Umgang mit Techniken, imposanten Farbflächen und ein schnörkelloser Erzählton aus Kindersicht erlauben kleinen und großen Lesern eine sanfte Annäherung an gesellschaftsrelevante Themen wie Armut und Integration. Ohne pädagogischen Zeigefinger macht Ahmed aufmerksam auf die, die am Rande und im Dunkeln allzu leicht übersehen werden. (ab 5 Jahre)
Barroux: Ahmed. Aus dem Französischen von Claudia Sandberg. Schaltzeit Verlag, Berlin 2016. 32 Seiten, 14,90 Euro.