Bildband von Leanne Shapton:Wir sind doch glücklich

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Genau das Richtige für die Zeit der Phantomschmerzen: Die kanadische Künstlerin Leanne Shapton und ihr sinnliches "Gästebuch" der Heimsuchungen, der Erinnerungen und enttäuschten Erwartungen.

Von Meike Feßmann

Manchmal gehören Geschichten zu den Bildern, manchmal nur einzelne Zeilen: „Wer kommt da?“ heißt ein Bilderbogen mit Betttuch: (Foto: Leanne Shapton/Suhrkamp Verlag)

Ein Gespräch über Geister sei kein gutes Thema für eine Cocktailparty, heißt es in diesem Buch. Seine Stunde ist gekommen, wenn die Gäste gegangen sind. Gäste, welche Gäste? Womöglich solche, die es gar nicht gibt. Heimsuchungen, Gespenster, Vorstellungen spuken durch das illustrierte "Gästebuch", das die in New York lebende Kanadierin Leanne Shapton eingerichtet hat, als wäre es ein lebendiges Museum unserer Ängste und Wünsche.

Man öffnet es mit leichtem Schaudern, es ist schön und unheimlich, affiziert sofort mit geprägten Lettern auf dem Umschlag. Im rohweißen Schattenriss steht dort "Gespenstergeschichten" unter dem roten Haupttitel, dazu stilisierte goldene Blüten, blass verwoben mit der Textur des Leineneinbands. Auf dem ersten Foto, es ist schwarz-weiß, blicken wir in die Augen eines kanadischen Kampfpiloten des Zweiten Weltkriegs. Sie sind blau, erfahren wir, und dass er Vögel auf der Fensterbank landen lässt, konservative Politiker mag und zu 75 Prozent taub ist. Er liegt auf einem Sofa, in Hemd und Krawatte, den rechten Arm erhoben, die Rückseite der Hand auf die Stirn gestützt: "Er zeigt sich in der Spiegelung der Terrassentür."

Leanne Shapton, 1973 in Toronto geboren, ist Schriftstellerin, Künstlerin und Illustratorin. Sie hat schon einige bemerkenswerte Bücher gemacht, etwa das mit dem Esprit "gackernder Hühner" in Szene gesetzte Paperback über "Frauen und Kleider". In munteren Skype-Sitzungen mit der Kanadierin Sheila Heti und der US-Amerikanerin Heidi Julavits ersonnen, schildern 561 Frauen aus verschiedenen Kulturkreisen ihren Umgang mit Kleidung. Von Wasser und Ehrgeiz erzählt die ehemalige Leistungsschwimmerin in "Bahnen ziehen". Aquarelle und Zeichnungen lassen sprachliche und bildliche Dimensionen zusammenfließen. Leanne Shapton, deren Mutter von den Philippinen stammt, hat großes Vertrauen in die Aussagekraft von Gegenständen und findet erzählerische Formen, die zeitgemäß und realistisch wirken, selbst wenn sich auf vermeintlichen Oberflächen fantastische Abgründe des Imaginären auftun. "Bedeutende Objekte und persönliche Besitzstücke aus der Sammlung von Leonore Doolan und Harold Morris, darunter Bücher, Mode und Schmuck" lautet der verschwenderische Titel eines im Original 2009 erschienenen, von Rebecca Casati 2010 ins Deutsche übertragenen Buches, das in Form eines fiktiven Auktionskatalog vom Ende einer vierjährigen Beziehung erzählt.

Auf Party-Fotos schwenken Prominente ihre Gläser, die keiner kennt

"Denk daran, was du nicht zu sehen bekommst", schreibt Leanne Shapton unter diese Blumenaquarelle. (Foto: Leanne Shapton/Suhrkamp Verlag)

Der seltsame symbolische Überschuss, der an Objekten haftet, die eine Geschichte versprechen, bekommt in diesem neuen Buch noch mehr Raum. Überhaupt ist dessen Lektüre eine dreidimensionale Erfahrung: Sie erfordert Zeit und Kontemplation. Man muss knobeln, erkunden - und, klar, auch immer wieder googeln. Dieses "Gästebuch" spielt mit dem, was wir zu wissen glauben, und erst recht mit dem, was sich in unserem Unbewussten abgelagert hat. Das Unheimliche und seine Verbindung zum Heimlichen, zu kindlichen Geborgenheitshoffnungen sind die Klaviatur, auf der jede Schauergeschichte spielt.

Leanne Shapton verwendet Fotos, um uns zu triggern: Manche wirken so intim wie Fotos aus der eigenen Familie, andere, als wären sie einem Lehrbuch über Traumdeutung entnommen - leere Flure, Dachkammern, verwinkelte Treppenhäuser, Kellerräume -, wiederum andere, als kämen sie direkt aus einer Illustrierten: Bunte Party-Fotos mit Gläser schwenkenden Prominenten, der Blick springt zwischen Bild und Bildunterschrift hin und her, wie bei einer Zeitschrift. Nur seltsam, dass man keinen kennt. Oder doch nicht seltsam? Denn es gibt sie nicht, zumindest nicht als Promis, die man in Suchmaschinen finden könnte.

So werden inszenierte Gesten bloßgestellt, etwa die "Was sind wir glücklich und erfolgreich"-Attitüde, von der auch soziale Netzwerke leben. Das lässt nicht nur jede Form von Authentizität fragwürdig werden. Es durchlöchert unser Realitätsgefühl. "Gästebuch" baut ein exquisites Setting, eine Art literarischen Traumfänger für Befürchtungen und Hoffnungen. Es gleicht einem Schallverstärker, der das allmähliche Abgleiten jedes Stimmungsaufschwungs in die schon bereitstehende Enttäuschung aufnimmt.

Es gibt nur wenige durchgängig erzählte Geschichten hier, die sich bilderlos über mehrere Seiten erstrecken. Etwa die einer Frau, die nach einem Besuch der Gefängnisinsel Alcatraz das Gefühl nicht loswird, eine Katze streiche um ihre Beine. Es sei der Geist eines Gefangenen, der ihr Mitleid gespürt habe, erfährt sie von einem Akupunkteur, der ihr zur Austreibung mit Salbeirauch rät.

Den Seifengeruch ihres Lieblingslehrers spürt eine Frau in der Nacht seines Todes

Leanne Shapton wurde 1973 in Toronto geboren, sie lebt heute in Manhattan, über das sie ein Buch mit den deutschen Journalisten Niklas Maak gemacht hat. Sie arbeitet als Autorin, Künstlerin und Art-Direktorin. (Foto: Jack Taylor/Getty Images)

In manchen Geschichten scheinen Fotos, Zeichnungen, Aquarelle und der Text etwas miteinander zu tun zu haben, gelegentlich widersprechen sie sich, oft nistet sich in der Kluft zwischen beidem eine merkwürdige Form der Poesie ein. Aquarelle von Tadzio aus Viscontis "Tod in Venedig" zum Beispiel zeigen dessen Grazie in einer weißen, aus einer aquarellierten Fläche ausgesparten Figur. Sie haben aber nicht wirklich etwas mit der kleinen Geschichte zu tun, die auf dem unteren Drittel der Seiten erzählt wird. Und doch spielt etwas von der Ruhe der Aquarelle in die Geschichte herüber.

Sie handelt von einer Tochter, die von ihrem Vater nach der Weihnachtsfeier ins Auto getragen wird und plötzlich - wahrscheinlich, vielleicht, womöglich - eine Erwachsene ist, nämlich die dreiundvierzigjährige Frau, die das Hupen auf der Fifth Avenue vor ihrem Küchenfenster wahrnimmt. Sie hat - vermutlich - eine Tochter, welche nur eine Seite später wiederum das Kind auf dem Rücksitz ist. Fließend sind die Übergänge zwischen den Personalpronomen, die Perspektiven wechseln. Das sinnlich Wahrnehmbare verbindet sich mit Vermutungen und der Tiefendimension von Erfahrungen. Sechs knappe Zeilen rufen das Haus auf, in dem diese Frau früher gewohnt hat. Es soll zufälliggenau das sein, an dem Bob Dylan auf dem Plattencover seines zweiten Studioalbums "The Freewheelin' Bob Dylan" vorbeigeht, an ihn geschmiegt seine Freundin Suze Rotolo, "an einem verschneiten Wintertag", vor rund sechzig Jahren. Fast täglich seien dort Paare zu sehen gewesen, die das "Tableau Vivant" nachstellten, oft riskant mit Selbstauslöser, mitten auf der Straße.

Andere Fotos beschwören rätselhafte Tode, die sich durch den Tod eines Tieres ankündigen. Sie sollen sich an einem Ort namens Goldbourne zugetragen haben. Im Netz findet man zu diesem Stichwort das Angebot, den erfundenen Namen als Markennamen erwerben zu können (für etwas mehr als 1 500 Euro), mitsamt der dazugehörigen Domain, einem Logo und einer Erklärung, warum sich der Name nach einem guten Ort in ländlicher Szenerie anhört. Einen originellen Namen hat auch Sinforosa, die Großtante einer Ich-Erzählerin, die den Geist ihres Bruders in der Nacht seines Todes erkannt hat: "Ich kenne seine Füße", hatte sie gesagt, erzählt die Mutter, die selbst nie einen Geist gesehen hat, aber den Seifengeruch ihres Lieblingslehrers wahrnahm, als er starb. Ein großes Tuch, in verschiedenen Posen fotografiert, gleicht einem Geist und ähnelt einem Tschador, aber man denkt auch an Casey Affleck als verstorbenen männlichen Part eines jungen Paars in "A Ghost Story".

Paare in Auflösung, Patchworkverhältnisse, familiäre Konstellationen, die nicht mehr sind, was man sich von ihnen erhoffte, bilden das häufigste Motiv. Die Innenseite der Buchdeckel ist mit Weihnachtsmotiven geschmückt, diesem Inbegriff des Familiären. In seiner wunderbaren Seltsamkeit ist das von Sophie Zeitz stimmig übersetzte "Gästebuch" wie gemacht für unsere gespenstische Gegenwart, in der selbstverständlich erscheinende Dinge und Ereignisse ausgesetzt werden müssen. Wer in dieser Zeit voller Phantomschmerzen ein Trostbuch braucht, das intellektuell auf der Höhe ist und sich gesellig anfühlt, taucht mit diesen Geistergeschichten in ein unerschöpfliches Reservoir des heimelig Unheimlichen ab.

Leanne Shapton: Gästebuch. Gespenstergeschichten. Aus dem amerikanischen Englisch von Sophie Zeitz. Suhrkamp, Berlin 2020. 320 Seiten, 24 Euro.

© SZ vom 06.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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