Bildband "Midcentury Memories":Vergessene Farbfilme

Auf Flohmärkten und im Internet hat Lee Shulman massenweise Fotos zusammengesammelt: Erinnerungen ohne Erinnernde, Zeugnisse einer Zeit, als die private Fotografie erschwinglich wurde.

Von Cornelius Dieckmann

Im Prinzip ist es legaler Diebstahl, was der Brite Lee Shulman mit seinem "Anonymous Project" betreibt. Er entreißt Erinnerungen ihrem Kontext und erklärt sie zu Illustrationen eines Zeitgeists. Namenlose Trenchcoatmänner. Kinder am Kieselstrand. Zwei Frauen, die ein Wohnzimmer vollqualmen, ausgelassen ein Privatvergnügen feiernd. In dem Bildband "Midcentury Memories" sind Erinnerungen ohne Erinnernde gesammelt. Shulman hat sie massenweise auf Flohmärkten und im Internet gekauft. Die eigensinnigsten hat er zu einem Mosaik zusammengefügt, das eine - meist weiße, angelsächsische - Mittelschicht zu einer Zeit zeigt, da Diafilme erschwinglich wurden und das Väterlich-Offiziöse abschüttelten. Die Fotos leben von privaten und nationalen Grenzüberschreitungen. Sie sind unkommentiert, lassen sich in den meisten Fällen aber den USA und Großbritannien zuordnen. Man entdeckt kleine zivilisatorische Eigentümlichkeiten. Palmen unter Telefonleitungen deuten Südkalifornien oder Florida an, stramm gekleidete Internatsjungen legen das England der Generation Churchill nahe. So ergibt sich eine visuelle Anthologie des Unscheinbaren - demokratische Geschichtsschreibung aus vergessenen Farbfilmen.

Lee Shulman: Midcentury Memories. The Anonymous Project. Taschen Verlag, Köln 2019. 280 Seiten, 40 Euro.

© SZ vom 18.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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