Besuch im Erfinderlabor:Wackelpudding und Irrtum

Lesezeit: 7 min

Nathan Myhrvold ist möglicherweise der kreativste Erfinder der Welt. Um was kümmert er sich mit seiner 400-Mann-Agentur? Zum Beispiel um die Zartheit von Wackelpudding.

Jörg Häntzschel

Der verrückte Wissenschaftler gehört zum Inventar der Populärkultur. Genie und Wahnsinn, wirre Haare, bizarre Brille. Nobelpreis, aber nicht wissen, wie man ein Ei kocht.

Auch Männer mögen zarten Pudding: Die Erfinder um Nathan Myhrvold arbeiten daran. (Foto: Foto: ddp)

Selbst Einstein streckte die Zunge heraus. Nathan Myhrvold dürfte auch einer von der Sorte sein. Das jedenfalls erwartet man nach einem Rundgang durch sein Labor.

In der riesigen Halle in Bellevue bei Seattle, früher ein Motorradshowroom, schießen Assistenten mit dem Laser auf Mücken aus eigener Zucht; hier wird die Zartheit von Wackelpudding mit einem "Texture Analyzer" getestet; daneben steht ein CAT-Scanner für Tiere, defekt wie viele der merkwürdigen Geräte.

"Wir kaufen meistens kaputte Maschinen. Das spart Geld, und wir lieben es, die Dinger zu reparieren", erklärt Geoff Deane, der Laborchef. In dieser Halle ist so ziemlich alles möglich, nur für den Atomreaktor, den Myhrvold bauen will, muss er sich einen anderen Ort suchen. "Die Nachbarn wären nicht begeistert."

Bewusst harmlos

Wider Erwarten erweist sich Myhrvold als äußerst vernünftig. Er sieht aus wie ein netter, norwegischer Physiklehrer. Wenn er spricht, erinnert er zuweilen an eine Comicfigur, was an seiner Begeisterung liegen mag, an seinem Bemühen, gegenüber denen, die nicht denken können wie er, nicht überheblich zu wirken - oder an seinem vollen Mund.

Jetzt langt er nochmal tief in die Glasschüssel mit den Salzmandeln, die ihm seine Assistentin hingestellt hat. Er kann es sich leisten, harmlos zu erscheinen: Nach 14 Jahren verließ er Microsoft mit mehreren hundert Millionen Dollar in der Tasche und gründete seine eigene Firma. Intellectual Ventures.

Die "Erfindungsagentur" hat heute 400 Angestellte. Und sein alter Chef Bill Gates kommt jeden Monat vorbei, um beim Erfinden zu helfen.

Wie hübsch die Umgebung ist! Auf dem Lake Washington dümpeln die Segelboote der Microsoft-Programmierer, am Ufern stehen ihre Villen. Im Halbschatten der Office Parks sind locker gestreut die High-Tech-Zulieferer angesiedelt, in Pavillons, die aussehen wie Luxuskindergärten.

Am Straßenrand ein Warnschild: Enten kreuzen die Fahrbahn! Von den nahen Rockies rollen angenehm kühle Fallwinde Richtung Pazifik. Doch die Erfinder von Intellectual Ventures sehen hier, wie überall, noch Verbesserungsmöglichkeiten.

Die goldene Ära der Erfinder war das 19. Jahrhundert. Ob Glühbirne, Telefon, Automobil: Ein brillanter Mann konnte die Welt damals noch mit einer bahnbrechenden Idee verändern. Bis 1940 erschien der Beruf Erfinder sogar auf den Fragebögen des US-Zensus.

Ein improvisierendes Jazz-Ensemble

Doch seither geht es mit der Profession bergab. Es ist kein Zufall, dass der iPod-Vermarkter Steve Jobs ein Star ist, aber nicht die Erfinder der Kompressionstechnologie mp3. "Die Forscher in den Universitäten wollen eher verstehen, wie die Welt funktioniert, als ihre Probleme zu lösen", sagt Myhrvold, "und die großen Firmen wollen nur neue Produkte.

Außerdem ist jede Firma auf einen kleinen Bereich spezialisiert, und auch dort braucht sie nicht viele neue Ideen, solange die alten noch Geld abwerfen." Myhrvold selbst und Edward Jung, sein Partner bei IV, haben das bei Microsoft erfahren.

Intellectual Ventures will sich ganz auf Ideen konzentrieren, ohne an Quartalszahlen, Produktpaletten, Vermarktbarkeit und Gewinnkalkulationen zu denken. Als "wissenschaftlicher Think Tank" wird die Firma oft bezeichnet. Aber sie gleicht eher einem improvisierenden Jazz-Ensemble.

Was bei den Musikern die Jam-Sessions sind, sind hier die Invention Sessions. Myhrvold und Jung laden dazu wechselnde Gruppen ein und lassen sie auf ein bestimmtes Problem los - mit ungewissem Ausgang. Es können Biologen sein oder Laser-Spezialisten, Geologen oder Chemiker.

Ist das nicht etwas für uns?

"Je mehr jemand in einem Gebiet spezialisiert ist, desto mehr ist er auch von allen anderen isoliert", sagt Myhrvold. "Diejenigen, die ein Problem haben, wissen nicht, dass es lösbar ist. Und die, die die Lösung hätten, wissen nichts von dem Problem."

Im Idealfall treffen sich bei den Erfindungssitzungen beide Seiten. So wie kürzlich die Chirurgen, die berichteten, wie leicht sie beim Aufschneiden der Haut ein Blutgefäß verletzen. Zwei Wissenschaftler hatten die Lösung: Ein Röntgengerät, dessen schwache Strahlen harmlos sind, nur den obersten Zentimeter des Gewebes darstellen und dank ihrer Empfindlichkeit für das Eisen im Blut Adern deutlich erkennbar machen.

Manchmal bringt einer zwei Magneten zu den Treffen: "Hier. Können wir damit nicht etwas anfangen?" Manchmal bilden fremde Forschungen den Ausgangspunkt: Ah, Laser können malariainfizierte Mücken erkennen. Ist das nicht etwas für uns?

Manchmal beginnt man mit einer Analogie: Mit Ultraschall kann man den Fötus im Mutterleib sehen, ließen sich mit ähnlichen Methoden nicht auch Ölvorkommen in der Erde finden? Oder haben die Ölbohrer etwas, was den Gynäkologen helfen könnte? Ist Bill Gates dabei, der Intellectual Ventures über seine Stiftung mit Kapital unterstützt, versuchen viele, ihn zu beeindrucken. Am Ende eines solchen Tages haben die Protokollanten meist um die 100 Ideen notiert.

Lesen Sie auf der zweiten Seite, wie Myhrvold wirklich wertvolle Erfindungen machen will.

Patente sind das Endprodukt von Intellectual Ventures; mit den Lizenzen verdient die Firma ihr Geld. Und Ideen sind das Rohmaterial. Beim kollektiven Brainstorming der Invention Sessions sollen so viele wie möglich geboren werden. "Natürlich kann nicht jeder mit dem größten Stuss kommen.

Aber es soll ein Klima herrschen, in dem die Gedanken frei zirkulieren dürfen", sagt Myhrvold. Ob eine Idee sinnvoll und realisierbar ist, wie weit die Forschung ist, und ob jemand anderer schon ein Patent besitzt, das wird später geprüft. "Erstmal sollen viele Ideen zusammenkommen. Die meisten überleben nicht, aber je mehr Ideen, desto größer die Chance, dass ein paar gute dabei sind."

Manche Erfinder gründeten noch im 20. Jahrhundert ganze Imperien auf einer einzigen Idee: Ray Dolby, der die Rauschunterdrückung entwickelte. Edwin Land, der Erfinder der Polaroid-Kamera. Doch die meisten haben es schwer.

Viele Ideen gehen verloren. Es ist zu aufwendig, sie zu prüfen, ganz zu schweigen, von der Arbeit, die die Patentanmeldung macht. Bei Intellectual Ventures werden die Erfindungen im Kollektiv gemacht, dafür steht ein großer Personalapparat zur Verfügung, der sich um den Papierkram kümmert. 1650 Erfindungen warten derzeit auf ihre Patentierung.

Mit Laser-Zäunen gegen die Malaria

Myhrvold besitzt selbst 20 Patente, Jung 70, doch hier verstehen sie sich als Moderatoren, die das Sprudeln der Hirne sanft lenken: "Erfinder haben ständig Ideen, sie können nicht aufhören. Sie sehen ein Atomkraftwerk und erfinden es neu, sie sehen ein Datenzentrum und wissen, wie man es verbessern könnte.

Einmal wollten wir über Immunologie diskutieren, doch weil die Eiswürfelmaschine kaputt war, ließen sich die Leute kaum davon abhalten, gleich eine viel bessere zu erfinden. Was wir ihnen bieten, ist ein Rahmen, in dem sie Erfindungen machen können, die wirklich wertvoll sind."

Viel geforscht wird momentan zur Überalterung. Die chronischen Leiden, die uns erwarten, werden ein kompliziertes Regime der Körperüberwachung, Medikamenteneinnahme und Diät erforderlich machen. "Wir haben zig Ideen dafür, wie Apotheken, Altenheime, Krankenhäuser der Zukunft aussehen können", so Jung. "Aber man kann schon beim Spiegel anfangen, ein völlig vernachlässigtes Stück Grund und Boden im Haus: Könnte der nicht als Interface für das Gesundheitsmanagement dienen?"

Oder Hurrikane. Sie erhalten ihre Energie aus dem warmen Meerwasser. Also müsste man die Temperatur senken, um ihre Energiezufuhr zu drosseln. Schon erfunden.

Und natürlich die Zukunft der Energieversorgung. "Wir haben jede Menge Ideen für Solar und Wind, aber sie sind zu teuer für Entwicklungsländer. Was also kann man ihnen als Alternative zu der billigen Kohle vorschlagen, die sie mit katastrophalen Folgen für die Umwelt verfeuern?

Wir haben eine Art Einmal-Reaktor erfunden, ein samt niedrig strahlendem Brennstoff hermetisch geschlossenes System, das zehn Jahre lang ohne jede menschliche Eingriffe Energie erzeugt, und nur aus-, aber nicht wieder angeschaltet werden kann."

Und was lässt sich gegen Malaria unternehmen? DDT versprühen scheidet aus. Feuchtgebiete trockenlegen auch. Da die Mücken niedrig fliegen, könnte man ein Dorf mit Moskitonetzen umgeben. Praktikabel wäre das allerdings nicht. Wenn aber ein Laser infizierte Mücken erkennt, könnte derselbe Laser die infizierten Mücken nicht auch gleich abschießen? Mit mehreren davon, billig und batteriebetrieben, wollen Jung und Myhrvold einen "Laserzaun" entwickeln, der ganze Dörfer umspannen und schützen könnte. Dass niemand an die Hurrikan-Bremse und den Malaria-Laser dachte, liegt, so Jung, nicht nur daran, dass mit diesen Erfindungen, obwohl sie Millionen helfen könnten, nicht viel Geld zu verdienen ist. Sondern auch daran, dass sich in allen diesen Fällen keine wissenschaftliche Disziplin zuständig fühlt.

Auf der Suche nach Dinosauriern

Zeugt der Erfolg von Intellectual Ventures also von den Defiziten des Expertenwesens, auf das sich die Welt seit der Aufklärung immer mehr verlässt? Und wenn es nicht die Spezialisierung ist, was macht dann den guten Erfinder aus? "Breite und Tiefe sind wichtig", sagt Jung. "Der Mensch hat über die Jahrtausende eine Angst vor dem Unbekannten entwickelt. Das erhöhte seine Überlebenschancen.

Andererseits ist Neugier nötig, um zu den interessanten Dingen zu kommen. Erfinder haben diese brennende Neugier. Sie decken einen breiten Bereich ab, aber dann steigen sie in ein Thema unglaublich tief ein, ohne wirklich Experten zu sein. Nehmen Sie Nathan. Er ist Amateurkoch, aber er hat sich mit der Wissenschaft des Kochens beschäftigt wie niemand sonst auf der Welt."

"Amateurkoch" ist untertrieben. Noch während er bei Microsoft arbeitete, kochte Myhrvold einmal die Woche in Seattles bestem französischen Restaurant. Anschließend ging er auf die Kochschule in Paris. Dann wurde er auf das aufmerksam, was er als "Revolution im Kochen" bezeichnet und mit dem Übergang von der Malerei des 19. Jahrhunderts zum Impressionismus vergleicht. Das neue "modernistische" Kochen wie es in Spanien Ferran Adrià und in England Heston Blumenthal praktizieren (und Myhrvold in seiner eigenen Küche). Myhrvold will das Standardwerk für dieses neue Kochen schreiben.

Im Konferenzraum, wo sich das Team aus Molekularbiologen, Wissenschaftsredakteuren, Chemikern und Küchenchefs trifft, das an dem Projekt arbeitet, wird gerade das Essen der indischen Cateringfirma abgeräumt.

Dann erscheinen die ersten für das Buch vorgesehenen Bilder von Lachsfilets und Enten-Confit auf einem der vier Bildschirme: ultraclean, in Folie verschweißt, in Laborglas kochend. Myhrvold lässt sich das geplante Kapitel vorführen, diskutiert Einschweißtechniken und Knochenpunktierung, explodierende Flüssigkeiten und "Sous-vide", das Vakuumkochen.

"Wenn man mehrere Leute zusammenbringt, kommt man zu Lösungen, auf die einer alleine nie kommen würde", sagt Myhrvold gerne. Doch er selbst erscheint einem oft schon wie ein Kollektiv brillanter Menschen.

Es ist übrigens nicht leicht, im Sommer einen Termin bei ihm zu bekommen. Myhrvold, der den Garten seiner Villa ausschließlich mit Pflanzen aus dem Mesozoikum bestückt hat, ist dann meistens auf der Suche nach Dinosaurierknochen in Montana oder Wyoming. In den vergangenen zehn Jahren hat er mit seinem Team neun Tyrannosaurus rex gefunden. In den 90 Jahren davor waren es weltweit 18.

© SZ vom 22.08.2008/pak - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: