Arthur Schnitzlers Stück "Professor Bernhardi" aus dem Jahr 1912 war bis zum Ende der Habsburger Monarchie 1918 in Österreich verboten: "wegen der tendentiösen und entstellenden Schilderung hierzuländischer öffentlicher Verhältnisse", wie es von Seiten der Zensurbehörde hieß. Gemeint ist der latente, teils aber auch krass zutage tretende Wiener Antisemitismus um 1900, den Schnitzler aus eigener Erfahrung kannte und in seinem Stück modellhaft am Beispiel eines Krankenhauses beschreibt.
Als Vorbild diente dem promovierten Mediziner Arthur Schnitzler, Sohn des Kehlkopfspezialisten Johann Schnitzler, die Allgemeine Poliklinik Wien, in der sein Vater gewirkt und er selbst als junger Arzt gearbeitet hatte. "Professor Bernhardi" ist insofern auch ein frühes Drama aus der Arbeitswelt. Es beschreibt, stellvertretend für die Gesellschaft, eine von Karrierestreben, Konkurrenzdenken und Ressentiments getriebene Kollegenschaft. Und es stellt dar, wie der jüdische Titelheld das erlebt, was man heute einen "Shitstorm" nennen würde: Weil er einen Pfarrer nicht zu einer im Sterben liegenden Patientin vorlässt, wird Bernhardi Opfer einer garstigen Hetzkampagne, die ihn um Beruf und Ehre und wegen "Religionsstörung" zwei Monate ins Gefängnis bringt.
Entwienert und entschnitzlert erweist sich das Stück als hochaktuell
"Professor Bernhardi" wurde 1912 am Kleinen Theater in Berlin uraufgeführt. Und in Berlin ist das selten gespielte Drama, das Schnitzler mit galligem Humor eine "Komödie" nannte und versöhnlich enden lässt, auch jetzt wieder zu sehen. Thomas Ostermeier hat es mit aseptischer Präzision an der Schaubühne inszeniert und darin ein Stück der Stunde ausgemacht, zeigt es doch auf hohem intellektuellen Niveau, wie rechtspopulistische, antisemitische Kräfte durch Verdrehung der Wahrheit einen "Fall Bernhardi" konstruieren und für ihre Zwecke instrumentalisieren. Die Parallelen zu den postfaktischen Mechanismen in unserer heutigen Gesellschaft und Politik sind frappierend. Der Abend ist hochaktuell - und unbequem.
Bernhardi, Leiter des Elisabethinums, einer renommierten Privatklinik, hat den Pfarrer aus gutem Grund nicht zu der sterbenden jungen Frau vorgelassen: Im Endstadium einer tödlichen Sepsis deliriert die 18-Jährige, sie sei geheilt. Bernhardi hält es für seine menschlich-medizinische Pflicht, ihr ein "glückliches Sterben" zu ermöglichen und sie nicht aus ihrer Euphorie zu reißen. Der Pfarrer hingegen besteht auf seinem Auftrag als christlicher Seelsorger, der die letzte Ölung gewähren will. Während beide noch diskutieren, kündigt eine Krankenschwester der Patientin den Besuch des Pfarrers an. Worauf die Todkranke sofort verstirbt. Das ist der Vorfall, der in dem Drama zum politischen Skandal hochgejazzt wird.
Ostermeier und sein Dramaturg Florian Borchmeyer haben das Stück profund entwienert und entschnitzlert, es inhaltlich und sprachlich modernisiert und AfD-kenntlich gemacht. In ihrer Version kommen in der Ärzteschaft zwei Frauen vor (Eva Meckbach, Veronika Bachfischer) - bei Schnitzler sind das nur Männer -, niemand "perhorresziert" mehr, und wenn ein aufrechter Charakter wie Dr. Pflugfelder (der tolle Robert Beyer) im Original die "deutschen Tugenden" einfordert, werden daraus in der Schaubühnen-Fassung "die konservativen Werte", als da wären die nämlichen: "Mut, Treue, Gesinnungsfestigkeit". Weit her ist es damit nicht.
Ostermeier inszeniert das Ärztedrama in einem kühlen, klinisch-hellen Ambiente, in Bildern von großer Eleganz. Jan Pappelbaum hat ihm dafür einen hohen, schmalen Bühnenkasten ganz in Weiß gebaut, dessen Rückwand sich gut für Videoprojektionen eignet. Da sieht man zum Beispiel die sterbende Patientin, gefilmt in ihrem Krankenbett, und immer wieder Bernhardis Profil in Großaufnahme.
Eine Frau in Rosa kritzelt vor jeder neuen Szene mit einer ziemlichen Klaue die jeweilige Ortsangabe an die Wand ("Innere Medizin", "Salon bei Bernhardi"), die einzige sichtbare Schmiererei in der sterilen Szenerie - ein winziger, graffiti-subversiver Stilbruch. Das macht sich gut. Die 15 Schauspieler in diesem Ensemblestück schieben die Requisiten selber herein oder hinaus: Krankenbetten, Designerstühle, Sitzungsraummobiliar. Das alles geschieht in reibungslosen Abläufen, zu Klavier- und Streicherklängen (Musik: Malte Beckenbach). Es herrscht inszenatorische Perfektion.
Es herrscht aber auch eine große Gediegenheit. Die ist auch der - anfangs etwas brav und fast didaktisch wirkenden - Ernsthaftigkeit geschuldet, die Ostermeier trotz komödiantischer Einsprengsel als Grundtonart anschlägt. Man merkt immer: Dieser stark aufs Wort konzentrierte, fast drei pausenlose Stunden lange Abend hat ein Anliegen. Es geht um was, und wir sollen genau hinhören und aufpassen.
Wie sich hier Feigheit und Hass abzeichnen, das ist großes Realitätskino
Den Titelhelden spielt Jörg Hartmann, dem Fernsehpublikum bekannt als soziopathischer Dortmunder "Tatort"-Kommissar Peter Faber, von dessen Starrsinn auch sein Bernhardi etwas hat. Hartmann kehrt mit dieser Rolle ins Schaubühnen-Ensemble zurück, dem er schon von 1999 bis 2009 angehörte. Er ist brillant in der Rolle, süffisant, sarkastisch, stolz. Ein Meister des mimetischen Minimalismus. Man kann ihm beim Denkspotten zusehen und tut das gern. Den Opportunismus der Kollegen und deren Intrige gegen ihn scheint Bernhardi wie ein Wissenschaftler in der Feldforschung zu studieren, teils angewidert, teils amüsiert.
Ein Höhepunkt ist die Sitzung des Klinikvorstands, bei der Bernhardi von selber die Leitung niederlegt, als er hört, dass im Parlament rechte Populisten ein Strafverfahren gegen ihn durchgesetzt haben. Wie sich da am Sitzungstisch die Fraktionen pro und contra Bernhardi formieren, wie sich Feigheit, Hass und Duckmäusertum abzeichnen - das ist großes Realitätskino, sehr gut beobachtet, glänzend gespielt (darunter: Lukas Turtur, Thomas Bading, Damir Avdic). Nun schlägt die Stunde von Bernhardis stärkstem Widersacher, Dr. Ebenwald, bei Sebastian Schwarz ein eiskalter Karrierist, der das Ruder nicht einmal triumphierend, sondern mit der Selbstgewissheit des Technokraten übernimmt. Bernhardis anderer Gegenspieler ist der neue Gesundheitsminister Flint, der den Freund aus Jugendtagen perfide hängen lässt, weil er als Politiker eine höhere Mission, "das Große und Ganze" im Auge behalten müsse. Hans-Jochen Wagner (auch er demnächst "Tatort"-Kommissar) gibt ihn mit dampfender Körperkomik als geschmeidigen Politbarometermann, erspielt seiner Figur aber auch ein sichtbares Unwohlsein. In Bernhardis Schicksal sieht er eine "Tragikomödie des Eigensinns".
Als sich am Ende das Blatt zu Bernhardis Gunsten wendet, zählt Flint ganz auf dessen Kooperation. Auch im Gespräch zwischen Bernhardi und dem Pfarrer (bei Laurenz Laufenberg ein junger, unverzopfter Kirchenmann) prallen zwei völlig unterschiedliche Sichtweisen aufeinander. Dass beide ihre Berechtigung haben und auch bekommen, ist das Aufregende.
So geht der nicht nur rehabilitierte, sondern am Ende schon wieder vor einen Karren - diesmal der liberalen Kräfte - gespannte Bernhardi auch nicht als eindeutiger Sieger aus der Inszenierung hervor. Sondern kriegt von einem lebensklug spitzfindigen Staatssekretär (Christoph Gawenda) eine echte Kopfnuss verpasst: Nur das gefühltermaßen Richtige zu tun, das reiche nicht. Man müsste für seine Überzeugungen schon "bis zur letzten Konsequenz" gehen. Aber wer ist schon zum Revolutionär geboren? Das sind wir wohl alle nicht. Trotzdem werden wir für unsere politische Gegenwart einstehen müssen.