Berlinale-Wettbewerb:Singuläre Seherfahrungen

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Die ersten Beiträge zeigen den Anspruch einer neuen Auswahl.

Von Philipp Stadelmaier

Bildet sich die Heldin das alles nur ein? Szene aus „El prófugo / The Intruder“ von Natalia Meta. (Foto: Berlinale)

Jetzt hat er begonnen, der Wettbewerb der 70. Berlinale, mit der Ankündigung des neuen künstlerischen Leiter Carlo Chatrian, die Zuschauer auch herauszufordern - mit Filmen, die einen eigensinnigen, singulären Blick auf die Welt werfen. Der erste Beitrag, der sich an diesem Anspruch messen muss, ist "Volevo Nascondermi / Hidden Away" des Italieners Giorgio Diritti. Der beginnt tatsächlich mit einem Blick. Ein Auge lugt ängstlich unter einer Decke in die Welt hinein und versteckt sich schnell wieder. Dann kommt es doch wieder heraus, und was es sieht, wird es irgendwann künstlerisch verarbeiten, auf Leinwänden und in Form von Skulpturen. Dieses Auge erinnert ebenso an einen Filmemacher, der durch den Sucher einer Kamera schaut, wie an einen Zuschauer im Dunkel des Saales.

Der Film erzählt vom Leben des Malers Antonio Ligabue (1899 bis 1965). Bekannt wurde er durch Tierszenen, Selbstporträts und vibrierende, an Van Gogh erinnernde Farben. Ein Genie, ein Außenseiter - und traumatisiert bis zum Wahnsinn. Der Beginn des Films fasst mehrere Zeitebenen zusammen: Bilder aus der Kindheit, der Jugend und dem jungen Erwachsenenalter. Ligabues italienische Mutter war in die Schweiz ausgewandert und früh gestorben. Psychiater, Pflegeeltern und andere Kinder, sie alle beugen sich auf das unruhige Wesen herab, das psychisch "abnormes" Verhalten zeigt, um es zu beschimpfen und zu demütigen: "Du bist ein Fehler", sagt ihm ein Lehrer. Unaufhörlich wird er diszipliniert, in einen Sack gesteckt oder in eine Kiste. Man verlangt Reife und Respekt von ihm. Doch er lebt in seiner eigenen Welt, spricht mit Kaninchen und zertrampelt Kohlköpfe. Und schlägt sich auf den Kopf, in dem sich, so glaubt er, das Böse selbst eingenistet hat.

Schließlich wird er nach Italien ausgewiesen, wo er in einem Dorf als Außenseiter lebt und immer wieder in Psychiatrien eingewiesen wird. Bis sich ein anderer Künstler seiner annimmt, sein zeichnerisches Talent entdeckt - und ihm zum Durchbruch als Maler verhilft.

Elio Germano spielt Ligabue in allen seinen extremen Zuständen, schimpfend, fluchend, malend, schreiend. Sein nach gebeugter Gang ist ebenso Zeichen des geprügelten Hundes wie des störrischen Künstlers. Dadurch entsteht das rührende Porträt eines dysfunktionalen Körpers. Die Bildränder sind oft unscharf, womit Ligabues Verhältnis zu einer diffusen, unverständlichen und bedrohlichen Umwelt deutlich wird. Auf der Tonspur strahlt der Film große Ruhe aus, als wolle Diritti seine Hauptfigur, die schon von einem Husten um den Verstand gebracht werden kann, um keinen Preis stören. Auf diese Weise entsteht kein klassisches Biopic. Der historische Hintergrund einzelner Lebensphasen streift das Bewusstsein des Künstlers nur von Ferne. Stattdessen werden wir ganz in dessen eigenes Universum gezogen. In eine Welt aus Farben, Dunkelheit und diesigem Licht, in der die Malerei die Wirklichkeit nicht einfach darstellt, sondern erst erschafft. Malt er einen Hahn, kräht er die Leinwand an. Malt er eine Frau, ist diese für ihn real - "sie leistet mir Gesellschaft."

Zum Bild eines Tigers sagt Ligabue einmal: Du musst von jemanden lieb gehabt werden. Tiere, Kinder und Kunstwerke, so ist das zu verstehen, müssen gleichermaßen geliebt werden, egal, wie "abnormal" sie sind. Analog lässt sich sagen, dass Chatrian anspruchsvolle Filmkunst vermitteln und doch das Publikum nicht verlieren möchte. Im Vorfeld des Festivals hatte er in dieser Hinsicht von einem "Brückenschlag" gesprochen. Mit diesem Wettbewerbsauftakt ist er auf einem guten Weg.

Wie Ligabue hat auch die Hauptfigur aus Natalia Metas Wettbewerbsfilm "El prófugo / The Intruder" seit frühester Jugend Erfahrung mit Dämonen. Inés (Érica Rivas) ist Synchronsprecherin und Chorsängerin in Buenos Aires. Sie fliegt mit ihrem neuen Freund in den Urlaub, aber der Mann stellt sich als eifersüchtiger Freak heraus, der noch ihre Träume kontrollieren will: Sie hat im Schlaf gesprochen - doch wohl nicht mit ihrem Ex?

Plötzlich liegt der Mann tot im Hotelpool. Daraufhin verwandelt sich die Studie einer toxischen Beziehung in einen Psychothriller. Bei den Chorproben verliert Inés die Kontrolle über ihre Stimme, im Tonstudio sind unheimliche Töne auf den Aufnahmen zu hören. Eine Kollegin erklärt ihr, dass es sich um "Prófugos" handelt, um Eindringlinge. Parasitäre Stimmen und Trugbilder haben von ihrer Wahrnehmung Besitz ergriffen und lassen die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit kollabieren. Und wenn nun auch ihre Mutter und ihr neuer Liebhaber nur Wahnbilder sind?

Der Genrefilm ist etwas konstruiert, aber sehr unterhaltsam. Es ist Metas zweiter Film, nachdem ihr Debüt "Death in Buenos Aires" in Argentinien ein großer Kassenerfolg war. So erscheint gerade "El prófugo" wie ein Zugeständnis an das Publikum. Dennoch zelebriert auch dieser Film eine singuläre Seherfahrung, die der Berlinale-Zuschauer mitnehmen soll: Dämonen sind gemeinhin immer nur für denjenigen zu sehen, der sie wahrnimmt.

© SZ vom 22.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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