Berlinale-Wettbewerb:Royal Flunsch

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Im Wettbewerb: Der Film "Ballast" erzählt von Drogen und Armut, "The Other Boleyn Girl" zeigt menschliche Qualen und "Katyn" probt einen weinerlichen Umgang mit Geschichte.

Tobias Kniebe

Es ist nicht leicht, ein aufrechter Offizier zu sein, schon gar nicht vor dem Blick der Nachgeborenen. Das muss auch Rittmeister Andrzej (Artur Zmijewski) erfahren, eine zentrale Figur in Andrzej Wajdas Historiendrama "Katyn", das außer Konkurrenz gezeigt wird und bald um den Auslands-Oscar konkurriert.

Maja Ostaszewska in Andrzej Wajdas Kriegsdrama "Katyn". (Foto: Foto: ddp)

Der Rittmeister gehört zu den polnischen Soldaten, die nach der Besetzung Polens im Jahr 1939 in sowjetische Gefangenschaft geraten - aber bevor er abtransportiert wird, ist seine besorgte Ehefrau Anna (Maja Ostaszewska) ihm bereits nachgereist und hat ihn aufgespürt. Unter Tränen fleht sie ihn an zu fliehen, erinnert ihn an sein Ehegelöbnis, wirft ihm mangelnde Liebe vor, ja selbst seine kleine Tochter ist dabei und bittet weinend darum, er möge sie nicht verlassen.

So muss der arme Mann darauf beharren, dass es so etwas wie einen soldatischen Ehrenkodex gibt, und dass ein gefangener Offizier sich nicht so einfach aus dem Staub machen kann. Er sieht dabei, man kann es nicht anders sagen, wie ein ziemlicher Depp aus.

Nachgeholter Abschied

Eine exemplarische Szene - nicht nur für diesen Film, sondern auch ganz allgemein für den gegenwärtigen Umgang des Kinos mit Geschichte. Wie die meisten Regisseure, die sich an die Greuel der Vergangenheit wagen, will der 81-jährige Wajda das Leid spürbar machen, die Sinnlosigkeit des Sterbens anklagen. Sein Film weiß, was der Rittmeister Andrzej und seine Frau nicht wissen können - dass nämlich die Männer in dieser Szene nie wiederkehren, dass sie einem der notorischsten Kriegsverbrechen des Zweiten Weltkriegs zum Opfer fallen werden, der Ermordung durch den sowjetischen Geheimdienst NKWD im Frühjahr 1940 im Wald bei Katyn.

Es handelt sich also gewissermaßen um eine nachgeholte, verzweifelte Abschiedssequenz, die dem polnischen Volk in der Realität verweigert wurde. Das Problem aber ist, dass dieser Abschied zugleich ganz unhistorisch ist: Eine wirkliche Offiziersfrau in jener Zeit hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als ihren Mann einer solchen emotionalen Erpressung auszusetzen - und Wajda, der Sohn eines mutmaßlich in Katyn ermordeten Offiziers, muss das wissen. Wenn aber selbst Leute mit seiner Autorität schon die Notwendigkeit sehen, sich der ausufernden Gefühlsduselei der Gegenwart anzupassen - was sagt das dann über den Zustand des historischen Kinos an sich?

Nichts Gutes wahrscheinlich - und doch ist die Historie auch zum Ende der Berlinale wieder der einzige Weg, die Dinge wirklich zuzuspitzen, die allgemeine Diagnose von Erstarrung, Verdrängung und stiller Verzweiflung zu durchbrechen, die das europäische Kino der Gegenwart so gerne ausstellt. Wer es zwischendrin einmal wagt, einfach nur glücklich und gutgelaunt zu sein wie die Heldin bei Mike Leigh, riskiert in diesem Umfeld fast debil zu wirken - und tatsächlich scheint "Happy-Go-Lucky" auch mit der Frage zu spielen, ob seine Protagonistin noch alle Tassen im Schrank hat.

Die Antwort ist ja, das hat sie, sie gilt mittlerweile sogar als heiße Bärenanwärterin. Mit ihrer Extrovertiertheit ragt sie jedenfalls aus der Gesamtheit des Wettbewerbs heraus wie ein grellbunter Leuchtturm. Mithalten kann da höchstens noch Moshe (Moshe Ivgy), die Hauptfigur in "Restless" von Amos Kollek. Heimat- und ruhelos in New York, und unversehens mit seiner Rolle als Vater konfrontiert, vor der er immer geflohen war, kann sich dieser verbitterte Jude immerhin mit einer Art Poetry Slam in seiner Lieblingsbar Luft verschaffen - seine Beschimpfungen der Heimat Israel, seine obszönen Lebens- und Liebesbeichten, seine Wut auf die ganze Welt verschaffen ihm sogar eine überraschend treue Fangemeinde.

Teuflische Strategie

Ganz europäisch, und emotional verschlossen bis zur Froststarre, gibt sich dagegen der amerikanische Debütant Lance Hammer. "Ballast" zeigt eine afroamerikanische Dreiecksgeschichte zwischen Mutter, Sohn und Onkel in der winterlichen Ödnis von Mississippi, eine prekäre, von Drogen und Armut bedrohte Allianz. Sie ist erkennbar vom Kino der belgischen Dardenne-Brüder inspiriert - in ihrer Nähe zur Landschaft, zum Alltag und zu den Laiendarstellern, die alle tatsächlich aus der gottverlassenen Gegend stammen, die man hier sieht.

Hammer hat mit dieser vielversprechenden Etüde schon den Regiepreis des Sundance Festivals gewonnen, und die Berlinale ist sehr stolz darauf, dass er vor drei Jahren schon beim sogenannten Talent Campus für angehende Filmemacher zu Gast war. Impft man so den Amerikanern europäische Sensibilität ein, lässt sie Hollywood abschwören und füllt dann mit ihnen den Wettbewerb? Wenn dieses Beispiel Schule macht, könnte man dahinter fast eine teuflische Strategie des Campus-Erfinders Dieter Kosslick vermuten.

Schwestern an die Macht

Menschliche (und vor allem weibliche) Qualen bis zur Schmerzgrenze, aber auch eine wunderbare Mischung aus Intrige, Witz und Bosheit bietet zum Schluss "The Other Boleyn Girl - Die Schwester der Königin" von Justin Chadwick. Auch hier ist es wieder die Brutalität der Geschichte, die am Ende die Emotionen mobilisiert. Theoretisch weiß man es ja, wie gefährlich der ganze Komplex von Sex, Macht und Fortpflanzung an den Königshöfen der Vergangenheit war - aber hier geht das zum ersten Mal bis unter die Haut von Natalie Portman und Scarlett Johansson.

Sie spielen die Schwestern und Hofdamen Mary und Anne Boleyn, die im 16. Jahrhundert um das Herz des englischen Königs Henry VIII. kämpfen - und gegen seine Frau, die legitime Königin. Eine einmalige Konstellation, die historisch gut belegt ist - die aber auch das britische Königreich für immer verändern wird.

Mary (Johansson) ist dabei so etwas wie das gute Gewissen, während die skrupellose Anne nicht nur den König um den Verstand bringt, sondern schließlich auch sich selbst - ein Psychotrip, an dessen Ende man Natalie Portman kaum mehr wiedererkennt, so hemmungslos hat sie sich in diese Rolle gestürzt. Die historisch (und auch genetisch) geniale Pointe ist schließlich, dass in all diesem weiblichen Powerplay zwar nicht der ersehnte männliche Thronfolger geboren wird - dafür aber Elizabeth I., die mächtigste Königin, die England jemals hatte.

© SZ vom 16./17.2.2008/kur - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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