Beobachtungen aus dem Beitrittsgebiet:Priamos in der Ex-DDR

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30 Jahre nach der Wiedervereinigung ist Martin Gross' zu wenig beachteter Wende-Bericht "Das letzte Jahr" neu erschienen.

Von Tobias Lehmkuhl

"Ich bin doch kein Flaneur", schreibt Martin Gross, und das, obwohl er ein Jahr lang nichts anderes tut, als durch Dresden zu laufen und mit anzusehen, was die Wende dort für Folgen zeitigt. Er beobachtet die Menschen auf der Straße und in Versammlungen, er befragt Supermarktleiter und Staatsanwälte, er geht mit einem Zeitungsredakteur zweifelhaften Immobiliengeschäften nach und trifft sich mit der Ostverwandtschaft. Martin Gross kommt aus dem tiefsten Westen, aus dem Schwarzwald, um eben dieses "letzte Jahr" der DDR vor Ort mitzuerleben, und was er sieht, sind die feinen Unterschiede: "An den Einheimischen sind jedenfalls weniger Gesten zu erkennen, keine abrupten Bewegungen, alles gedämpft, gebremst, vielleicht müde."

Eine typische Flaneurs-Beobachtung eigentlich, aber anders als Franz Hessel und Siegfried Kracauer mimt Gross nicht den unbeteiligten Beobachter, den ironischen Kommentator der allgemeinen Zeitläufte. Gross wendet den Blick auch auf sich selbst, aufs eigene Befremden angesichts einer Revolution, deren revolutionäre Kraft schon im Januar 1990 verpufft zu sein scheint.

Gleichzeitig wünscht er sich, angesichts dessen, dass in kürzester Zeit ganze Lebensläufe von Millionen von Menschen umgepflügt werden, selbst noch einmal neu anfangen zu können: "Schade, wenn ich diese Leute sehe, wie sich alles für sie ändert, denke ich: warum nur sie? Warum haben nicht auch wir die Chance, noch einmal alles zu ändern? Das Abenteuer, einmal zu erfahren, dass man alles auch ganz anders machen könnte. Aber wie es scheint, begegnet mir nur noch das Leben, das ich bereits kenne."

Das ist keine Koketterie, der melancholische Duktus, die bis zur Verzweiflung reichende Ratlosigkeit ist nicht aufgesetzt; Gross selbst spricht in seinem Vorwort zur Neuausgabe des 1992 erschienenen und lange Zeit gründlich vergessenen Buches von der "Depression" des damals knapp Vierzigjährigen. Aber "diese Depression und dieser Schwebezustand waren ja wohl auch der Seelenzustand vieler Menschen, denen er damals begegnete: Wo ist mein Platz in der neuen Gesellschaft? Und was hat es für einen Sinn, was ich hier mache oder gemacht habe?"

Im Nachwort berichtet der Verleger Jan Wenzel, wie er bei seiner Recherche zum Jahr 1990, aus dem dann der große Text-Bild-Band "Das Jahr 1990 freilegen" hervorging, auf Gross' Buch gestoßen sei, es für zwei Euro im Online-Antiquariat gekauft habe und, als er zu lesen begann, begriff, "dass ich gerade - um es in der Terminologie der Archäologie auszudrücken - meinen Schatz des Priamos gefunden hatte. Es gibt keinen zweiten Autor, der das Jahr 1990 so detailreich und genau festgehalten hat."

Die allgemeine Verunsicherung beförderte ein Redebedürfnis, das heute unvorstellbar wäre

"Hellsichtig" könnte man als weiteres Attribut hinzufügen: "Alle Welt glaubt", schreibt Gross, "hier und heute erlebe man das Ende des Sozialismus. Offensichtlich erleben wir aber vor allem den ultimativen Beginn der Weltwirtschaft. Womöglich verdeckt das politische Drama einen viel weitreichenderen Skandal: dass es heute möglich ist, jedes Land über seinen Außenhandel aufzuknacken."

Zu Hilfe kam dem Autor Gross bei seiner Arbeit die allgemeine Verunsicherung. Diese beförderte für kurze Zeit ein Redebedürfnis, einen Frage- und Mitteilungsdrang, wie man ihn sich heute nicht mehr vorstellen kann, eine Offenheit, die großteils ins Gegenteil umgeschlagen ist.

Dass die "Aufzeichnungen aus einem ungültigen Land", wie "Das letzte Jahr" im Untertitel heißt, heute noch Gültigkeit besitzen, liegt dann doch in der einem Kracauer oder Franz Hessel alle Ehre machenden Herangehensweise: Nicht um Wahrheit in einem journalistischen Sinn, sondern um Wahrhaftigkeit im literarischen Sinn ging es Martin Gross, als er in seinem Dresdner Zimmer saß und über die Währungsunion, den 3. Oktober, den verzagten Ton und die illusionslosen Gesichter schrieb, die ihm in diesem langen letzten Jahr begegneten, nicht nur in den Supermärkten auf der östlichen Seite der Grenze: "Und so habe ich den Verdacht, dass es gar nicht die Preise sind, deretwegen sie herüberkommen; es ist die Form der Darbietung, das ästhetische Ereignis. Nur eben uneingestanden. In dieser Hinsicht sind sie wie die Durchschnitts-Westler: Dass man kilometerweit fährt, um ein paar Mark zu sparen, gilt als vernünftig. Aber wegen der Ästhetik? Niemals!"

Einem Stilisten von hohen Gnaden, der Martin Gross nicht zuletzt ist, fällt so etwas besonders auf.

Martin Gross: Das letzte Jahr. Aufzeichnungen aus einem ungültigen Land. Spector Books, Leipzig 2020. 368 Seiten, 22 Euro.

© SZ vom 12.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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