Benjamin Moser: "Sontag":Immer auf der Kante

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Drei Bücher über und von Susan Sontag erlauben tiefe Einblicke in ihr Leben, ihre Gefühle und ihren komplizierten Charakter. Könnte es eine solche Intellektuelle heute noch geben?

Von Marie Schmidt

Auf dem St. Mark's Place in Manhattan habe Susan Sontag sie einmal auf zwei exzentrisch aussehende Frauen hingewiesen, erzählt die Schriftstellerin Sigrid Nunez. Es war in den Siebzigern, als sie mit Sontags Sohn David Rieff zusammen war und sogar bei Mutter und Sohn wohnte. Sie war 25, die "Schwiegermutter" erst 43, aber schon eine intellektuelle Prominente. Die Frauen schauen die anderen beiden an, "gekleidet wie Hippies mit langen, fließenden grauen Haaren. ,Alte Bohemiennes'", sagt Sontag, ",Wir in dreißig Jahren.' Über dreißig Jahre sind vergangen", schreibt Nunez weiter, "und sie ist tot, und es gibt keine Bohème mehr."

Eine Frage drängt sich eben unweigerlich auf, wenn jetzt Nunez' Erinnerungen "Sempre Susan" gleichzeitig mit der deutschen Übersetzung der 800-Seiten-Sontag-Biografie von Benjamin Moser und einer Ausgabe autobiografisch grundierter Erzählungen Sontags erscheinen: Wäre Susan Sontag heute noch möglich?

Dabei ist es noch das kleinste Problem, dass man sich gegenwärtig schwer Umstände vorstellen kann, unter denen eine passionierte Leserin von Simone Weil, Emil Cioran und Antonin Artaud mit ihren Essays über diese Literatur zur internationalen Popikone würde. Der Mythos von Susan Sontag besteht aber eben nicht nur darin, dass sie intellektuell einzigartig war, verschiedene Genres bespielte, toll aussah und mit berühmten Leuten schlief. Womöglich hat er vor allem damit zu tun, dass sie, die ihre historische Gegenwart zum ersten Mal als Kind auf Fotos aus den Konzentrationslagern der Nazis wahrnahm, und deren letzte Texte von der Folter in Abu-Ghraib handeln, in allen Umbrüchen ihrer Epoche on the edge war. 1933 wurde sie geboren und starb 2004, mit einem Bein stand sie immer fest in einer alten Welt, mit dem anderen schon in der neuen. Ihre Zerrissenheit, die ihre Essays, ihre Tagebücher und ihre Lebensgeschichte so charismatisch macht, spiegelt die interessantesten Konflikte ihrer Zeit.

So gehört sie eben ganz der Epoche der Universalbildung an, wovon die endlosen Leselisten in ihren Tagebüchern zeugen und die beißende Herablassung mit der sie auch intime Freunde behandelte, wenn die etwa Balzac nicht gelesen oder New Orleans nie besucht hatten. Zugleich war sie ein Star, wie ihn nur das Zeitalter der Massenmedien hervorbringen konnte. Von Andy Warhol und Woody Allen gefilmt, wurde sie zum Typus der Intellektuellen.

Für eine Frau gab es in dieser Rolle wenig Vorbilder, also war sie das Modell. Eine der fabelhaften Anekdoten ihres Lebens handelt von prächtigen Partys bei Roger Straus, dem Verleger von Farrar Straus & Giroux, der ihre Bücher herausbrachte. Dort war es üblich, dass nach dem Essen die Frauen "nach oben" gingen und die Männer ihren Gesprächen überließen. Die noch nicht dreißigjährige Sontag blieb einfach sitzen und sprach weiter. "Susan brach mit der Tradition," erzählte die Dame des Hauses, Dorothea Straus, "und wir haben uns nach dem Dinner nie wieder aufgeteilt." Zugleich grenzte sich Sontag gegen den Feminismus ab, als daraus eine Bewegung geworden war, wetterte gegen "eine chronische Unart feministischer Rhetorik: den Anti-Intellektualismus."

Ihr Biograf ist ungeduldig, weil Sontag nicht schrieb, "was Aids für meine Freunde, meine Liebhaber, meinen Körper bedeutete"

Die Geisteshaltung, nicht die politische, entschied für sie. Einer ihrer berühmtesten Sätze ist der aus dem Essay "Gegen Interpretation" von 1964: "Statt einer Hermeneutik brauchen wir eine Erotik der Kunst." Da predigte sie die strenge Ästhetik: die Kunst nur aus sich selbst wirken zu lassen. Zugleich wurde sie, als sie 1993 im belagerten Sarajevo "Warten auf Godot" inszenierte, eine Pionierin des ethischen Regimes einer Kunst, die ihre Wirkung an der Wirklichkeit beweisen soll. Theater wie es heute beispielsweise Milo Rau macht.

Die Spannung, die ihren Biografen Benjamin Moser am nervösesten macht, ist aber intimer. Sontag wurde ins Zeitalter der Disziplin hineingeboren, in dem man etwa Homosexualität verbergen musste und überhaupt den Körper als peinlichen Gegenstand behandelte. Moser ist fasziniert, dass Sontag sich in ihren Tagebüchern mehrmals ermahnen muss, regelmäßig zu baden. Und sogar als gegen Ende ihres Lebens alle in der New Yorker High Society von ihrer Beziehung zu der Fotografin Annie Leibovitz wussten, leugnete sie, dass es eine Liebesbeziehung war. Zugleich schrieb sie über den Ausbruch der Aids-Epidemie, und damit den Übergang in ein Zeitalter der Kontrolle, in dem man auch das Intime möglichst offen ausspricht, um es hygienisch transparent zu machen (gefolgt vom 11. September, der Kontrolle, Durchleuchtung, Überwachung auch zur politischen Normalität werden ließ).

Der 1976 geborene Benjamin Moser ist ganz Mann dieser Zeit. Er wirkt sehr ungeduldig mit Sontag, weil sie in "Krankheit und ihre Metaphern" ihre eigene Krebsdiagnose mit 42 Jahren nicht erwähnt. Außerdem stört ihn, dass in "Aids und seine Metaphern" (1989) "das Gefühl fehlt, was Aids für meine Freunde, meine Liebhaber, meinen Körper bedeutete." Auch das ist einer der Gründe, warum eine Intellektuelle wie Sontag heute unwahrscheinlich wäre: Der identifikatorische Stil aktuellen Denkens und Schreibens zerkleinert Wissen und Ideen zu persönlichen Erfahrungen.

Von Moser gibt es bereits eine nicht weniger umfangreiche Biografie der nicht weniger ikonischen brasilianischen Schriftstellerin Clarice Lispector (2009). Umstritten, weil sie stellenweise der älteren Biografie der brasilianischen Literaturwissenschaftlerin Nádia Gotlieb gleicht. Überhaupt scheint sich Moser in der Verwaltung des Ruhms und der englischsprachigen Übersetzungen Lispectors ganz schön breitbeinig zu zeigen. Wie immer es sich damit verhält, kam einem schon beim Lesen seines Lispector-Buches ein Gedanke: Dass es zwar herzig ist, wenn ein junger Mann sich ganz den Lebensgeschichten großer Frauen widmet. Aber auch klar wird, was daran der Nachteil sein könnte. Etwa wenn Moser voller Unverständnis dafür ist, dass eine Schönheit wie Lispector als ältere Frau grell geschminkt zur fatal ruinösen Gestalt wurde. Ein schamerfülltes, auch aggressives Verhältnis zum eigenen Körper ist aber ein existenzieller Teil von Frauenbiografien, gerade des 20. Jahrhunderts. Ohne das zu verstehen, kann man sie eigentlich nicht verstehen.

Eindrucksvoller und rührender ist das Charakterbild, das Sigrid Nunez in "Sempre Susan" zeichnet

Susan Sontag rückt Moser mit allerhand psychoanalytischem Besteck zu Leibe, führt Studien über Kinder von Alkoholikern an, zitiert Psychiater, um die Auswirkung des aufgeschobenen Outings auf die Selbstwahrnehmung Homosexueller zu klären und ist immerzu bestrebt "Muster" in ihren Beziehungen zu finden. Subtil ist das nicht. Warum Moser so viel herumdeutelt und kritisiert an seiner Heldin, wird mit dem letzten Satz klar. Sontag, heißt es da, "warnte vor den Mystifizierungen von Fotografien und Porträts - auch denen von Biografen." Im Bemühen, die zu umgehen, hat sich Moser den klügelnden Ton jüngerer Menschen eingehandelt, die wild entschlossen sind, sich von großen Geistern nicht einschüchtern zu lassen.

Trotzdem hat er für das Buch den Pulitzer-Preis bekommen, was einleuchtet, so viel Material, wie er gesammelt hat: All die Belege dafür, dass das Freud-Buch ihres Mannes Philip Rieff, den sie mit siebzehn heiratete, eigentlich Susan Sontag geschrieben hat. Erinnerungen an ihre Liebhaber (Jasper Johns, Warren Beatty, Robert Kennedy unter anderen) und Liebhaberinnen (María Irene Fornés, Carlotta del Pezzo, Lucinda Childs unter anderen). Wenn man mit einem Drittel der Details klarkommt, und eine ebenso konzise Beschreibung ihres medialen und intellektuellen Milieus zwischen der Zeitschrift Partisan Review, der New York Review of Books und dem Verlag Farrar Straus & Giroux lesen will, kann man sich nach wie vor auf die 2007 erschiene Sontag-Biografie des deutschen Schriftstellers Daniel Schreiber verlassen. Mehr Stoff hat Moser.

Eindrucksvoller und rührender ist aber das Charakterbild, das Sigrid Nunez in "Sempre Susan" zeichnet. In allen Härten. Zum Beispiel erzählt sie, wie sie einmal vor Sontag ihre Handtasche packte und die Ältere sie anherrschte: "Wir gehen nur für ein paar Stunden raus, du brauchst nicht so viele Tampons!" Welche junge Frau würde sich heute, von welcher Autorität auch immer, so anreden lassen? Nunez ist aber auch, und das macht ihre kurze Geschichte größer als Mosers fleißiges Buch, voller Trauer: "Im Rückblick wünschte ich nur, dass ich mehr Freude empfinden könnte - oder mich zumindest auf eine Weise erinnern, die nicht so schmerzhaft ist."

Wie eine vergleichsweise nüchterne Nachrede liest sich zum Schluss das bei Hanser erschienene Büchlein "Wie wir jetzt leben" mit einer Auswahl autobiografischer Erzählungen Sontags. In einer beschreibt sie, wie sie als Studentin mit einem Freund den Emigranten Thomas Mann in Pacific Palisades besucht, "im Thronsaal jener Welt, in der ich einmal leben wollte": "Doch der Mann, der mir gegenübersaß, hatte nur hochtönende Phrasen auf Lager, obwohl er derselbe war, der Thomas Manns Bücher geschrieben hatte. Und ich brachte nur Einfältigkeiten über die Lippen. Wir beide nicht in Bestform". So geht es einem mit Ikonen.

© SZ vom 13.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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