Belletristik:Der Himmel über dem Plastikeimer

Lesezeit: 3 min

Lisa Moore macht in "Der leichteste Fehler" zwei jungen Abenteurern das Leben schwer.

Von Luise Checchin

Ein toter Fisch ist ein toter Fisch. Meistens zumindest. Es gibt auch Fische, die liegen schon im Plastikeimer zwischen ihren leblosen Artgenossen auf dem Deck eines Fischkutters, da bäumen sie sich plötzlich auf, schießen in die Höhe und purzeln zurück ins Meer. Einen solchen Fisch beobachtet David Slaney am Morgen, an dem er festgenommen wird. Es ist das Jahr 1974, und der 21-jährige Slaney hat soeben mit seinem besten Freund Hearn Marihuana im Wert von mehreren Millionen Dollar auf einem Segelboot von Kolumbien nach Neufundland geschmuggelt. Na ja, fast. Die Fischer, die die beiden durch den kanadischen Nebel lotsen sollten, haben sie verraten. An Land warten die Polizei und ein ganzes Fischerdorf voller Schaulustiger.

Was unterscheidet einen gewöhnlichen toten Fisch von einem, der aus dem Plastikeimer wiederaufersteht? Die beiden Freunde in "Der leichteste Fehler", dem dritten Roman der 1964 geborenen kanadischen Autorin Lisa Moore, fragen sich genau das. Was macht den Unterschied: Glück? Der Wille zum Erfolg? Oder das Wissen, wem man vertrauen kann und wem nicht?

Slaney, der anders als sein Freund Hearn den Behörden nicht entwischen konnte, bricht nach vier Jahren aus dem Gefängnis aus, um es herauszufinden.

Er will noch einmal alles auf Anfang setzen: noch einmal Drogen schmuggeln, aber diesmal, ohne geschnappt zu werden. Slaney zieht der Möglichkeit unterzutauchen und ein neues Leben in Freiheit anzufangen, eine andere Freiheit vor: die Freiheit, es allen zu zeigen. Zu beweisen, dass das Gefängnis, der Staat, das System ihn nicht brechen konnten. Dafür durchquert er Kanada, reist nach Südamerika und wieder zurück. Dafür lässt er seine alte Existenz hinter sich, riskiert seine große Liebe und sein Leben. Dafür legt er sein Schicksal in die Hände von krebskranken Lkw-Fahrern, unglücklichen Bräuten, betrunkenen Stripteasetänzerinnen - während die Polizei, wie sollte es anders sein, ihm mehr als dicht auf den Fersen ist.

Es ist die Stärke von Moores Roman, dass er nicht nur von der Reise junger Abenteurer erzählt, sondern zugleich ein Gesellschaftspanorama Nordamerikas Ende der Siebzigerjahre entwirft. Die Utopien der 68er sind schon verblasst, aber geblieben ist ein vager, zielloser Freiheitsgeist, der Wunsch aufzubegehren. Dem entgegen steht ein Establishment, das verbissen versucht, seine Macht zu verteidigen und an ein paar abenteuerlustigen Studenten ein Exempel statuieren möchte.

"Der leichteste Fehler" hat deshalb auch zwei Protagonisten: David Slaney - bildschön, blitzgescheit und voll jugendlichen Wagemuts. Und Patterson, Ermittler im Drogendezernat, mit Hang zu übermäßiger Transpiration und für sein fortgeschrittenes Alter ungewöhnlich selten befördert. Seine Karriere hängt von diesem Fall ab.

Nun ist Patterson aber durchaus nicht der knallharte Cop, als den man ihn hätte zeichnen können. Moore gelingt es, die persönlichen Zweifel und Sorgen des Fahnders so eindringlich zu schildern, dass man am Ende gar nicht mehr weiß, wem man den Sieg wünschen sollte: den Verfolgten oder dem Verfolger. Und je länger die Jagd geht, desto näher kommen sich beide Parteien schließlich auch - nicht nur geografisch, sondern auch persönlich.

Der eigentliche Konflikt des Romans liegt ohnehin an anderer Stelle. Nämlich in der Frage, was Vertrauen bedeutet und wie viel davon ratsam ist. Für den Ermittler Patterson ist, schon beruflich bedingt, Vertrauen lediglich "die mangelnde Bereitschaft, die Dinge wirklich zu durchdenken". Slaney hingegen versteht Vertrauen als eine Gabe, eben als den Glauben in die Fähigkeit, sich über den Rand des Plastikeimers wieder ins Leben katapultieren zu können.

Lisa Moore: Der leichteste Fehler. Roman. Aus dem Englischen von Kathrin Razum. Carl Hanser, München 2015. 368 Seiten, 21,90 Euro. E-Book 16,99 Euro. (Foto: Hanser)

Um die Unverfrorenheiten der jungen Möchtegern-Schmuggler zu erzählen, findet Moore eine kühle, lakonische Sprache. Mit fotografisch anmutender Präzision hält diese Sprache Wahrnehmungssplitter fest: die Spiegelungen einer Fensterscheibe, das Aufklatschen des Segels auf der Meeresoberfläche. Kurze, intensive Momente, wie sie jemand erleben mag, der lange im Gefängnis saß und nun wieder draußen ist. So unterkühlt der Grundton, so kraftvoll sind die Passagen, die um eine gehörige Portion Pathos nicht herumkommen, weil hier Existenzielles verhandelt wird: Der Stierkampf etwa, dessen Zeuge Patterson zufällig wird und der den David-gegen-Goliath-Kampf, den sich die jungen Leute mit der Polizei liefern, überzeugend versinnbildlicht.

Für die Faszination des Publikums bei diesem Wettstreit hat Patterson eine ganz eigene Erklärung: Die besten Geschichten", meint er, "sind die, bei denen wir von Anfang an wissen, wie sie ausgehen". Zumindest in diesem Punkt irrt sich der sonst so vife Ermittler: In "Der leichteste Fehler" schafft es Lisa Moore bis kurz vor Schluss, den Leser über den Ausgang der Verfolgungsjagd im Ungewissen zu halten. Einer von vielen Gründen, warum es so eine verdammt gute Geschichte geworden ist.

© SZ vom 17.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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