Belgische Literatur:Zeitalter des Zorns

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Tunis, New York, Paris: In "Tunisian Yankee" erzählt die belgische Schriftstellerin Cécile Oumhani den Ersten Weltkrieg als globales Ereignis zu einer Zeit, als von der Globalisierung noch keine Rede war.

Von Ulrich Baron

Als der Roman im Winter 1917 in einem amerikanischen Feldlager unweit von Saint-Nazaire einsetzt, ist Daoud Kaci schon zu Dawood Casey geworden. Aber die US-Uniform bewahrt ihn nicht davor, von einem rassistischen Grobian als "sand-nigger" verhöhnt zu werden. Dabei hatte er als Sohn eines tunesischen Händlers selbst zu einer Klasse von Sklavenhaltern gehört und war von der schwarzen Amme Mouldia aufgezogen worden.

Das liegt 1917 schon weit zurück, denn Cécile Oumhani hat ihren Roman "Tunisian Yankee" als Kaleidoskop von Rückblenden angelegt, deren Bilder und Wörter sich im schwindenden Bewusstsein ihres Protagonisten zu immer neuen Konstellationen zusammenfügen. Dawood ist im Sommer 1918 schwer verwundet worden, und liegt in einem Lazarett: "Das Englisch, das unter dem gewaltigen Steingewölbe widerhallt, ist kunterbunt von Akzenten durchsetzt, von tausenderlei Ausrufen in Jiddisch, Polnisch, Italienisch, Sizilianisch oder Griechisch. Auch die gutturalen Klänge des Französischen sind mit von der Partie und lassen eine Epoche seiner Geschichte aufleben, die er längst verflossen wähnte." Über das Arabische und die Erzählungen Mouldias reicht die Geschichte über Dawoods Lebenshorizont hinaus tief nach Afrika, wo diese als Kind gegen Mitte des 19. Jahrhunderts von Sklavenhändlern entführt worden war.

Von dieser Einblendung und dem Schluss abgesehen, bleibt Oumhanis Kaleidoskop weitgehend auf die auktorial kommentierte Perspektive ihres Protagonisten beschränkt. Dessen Leben erscheint als Abfolge tragischer Episoden: Seine Mutter wurde vom Vater verstoßen, er selbst zu dessen Geisel. Die Begegnung mit einem russischen Ballonfahrer und die Liebe zu einer Trapezkünstlerin versprechen einen Ausbruch aus dem Familienkerker und führen Daoud bis ins winterliche Berlin, doch die Ballone ziehen weiter, und die Artistin stürzt zu Tode.

Neben solch privaten Katastrophen, zu denen auch noch der Bankrott des Vaters hinzukommt, fallen Schlaglichter auf die historischen: auf Volksaufstände und Streiks im französischen Protektorat, den italienischen Überfall auf Libyen im Jahr 1911 und den Ersten Weltkrieg. Dabei kommt es Cécile Oumhanis Roman darauf an, eine eurozentrische Sicht auf die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts zu korrigieren und zu erweitern. Mit seinem unvertrauten, oft nur skizzenhaft angerissenen Hintergrund rührt der Roman an Grundprobleme allen personalen Erzählens: Ob faktisch oder fiktiv, es liegen Über- und Innensicht in ständigem Widerstreit: "Wollte er das Fresko dieser letzten im Land seiner Geburt verbrachten Monate entwerfen", sagt die Erzählerin einmal, "würde er graugetönte Schraffuren wählen, für allen Frust, für all die zerbrochenen Illusionen." Erinnerungsbilder und Kriegsnachrichten überblenden sich und kulminieren in Massenszenen: "Auf der Zeitleiste drängen sich hunderte wutentbrannter Männer zusammen und fegen die grauen Schraffuren ihrer enttäuschten Hoffnungen, ihrer erlittenen Erniedrigungen hinweg."

Doch bald fügen Schüsse der Revolte blutrote Flecke hinzu. Das Bild des großen Ganzen, die historische Totale implodiert in einer intimen Szene, in der Daoud den verletzten Nachbarssohn zu dessen Elternhaus bringt.

"Tunisian Yankee" beschreibt den Beginn des Zeitalters eines Zorns, der sich nicht auf den Norden Afrikas hat beschränken lassen, der in immer neuen Schüben bald Europa, bald die ganze Welt erfasst hat. Ein Brief, ein Telegramm, eine Zeitungsmeldung über die Hinrichtung von Journalisten und Intellektuellen in Beirut und Damaskus kann diesen Zorn in einem Caféhaus von New York aufflammen lassen und ihn in "ohnmächtigem Schmerz" ertränken, wenn sich der eigene Bruder darunter findet.

Am Schluss des Romans ist das rastlose, erstaunliche Kaleidoskop von Dawoods Leben zur letzten Ruhe gekommen, und sein Arzt schreibt einen einfühlsamen Brief an dessen Witwe. Sehr viel Stoff hat er dafür nicht: "Er bereute, dass nicht genug Zeit gewesen war, um ihn besser kennenzulernen, ihn und den weiten Weg, der ihn von Afrikas Mittelmeerküste nach Amerika geführt hat." Dem kann man sich anschließen. Selbst rund dreihundert Seiten sind nicht genug, um diese Geschichte auszuschöpfen.

Cécile Oumhani : Tunisian Yankee. Roman. Aus dem Französischen von Regina Keil-Sagawe. Osburg Verlag, Berlin 2018. 304 Seiten, 20 Euro.

© SZ vom 06.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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