Belarus:Vielleicht ein Anfang

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Vielleicht hat Lukaschenko Swetlana Tichanowskaja nur deshalb die Kandidatur erlaubt, weil er sich nicht vorstellen konnte, dass sie ihm eine starke Gegnerin werden könnte. (Foto: Dmitri Lovetsky/dpa)

Dass an der Spitze der Proteste in Weißrussland ein Frauenkollektiv steht, zeigt auch: In dem Land stehen sich nicht zwei Parteien gegenüber, sondern zwei verschiedene politische Kulturen.

Gastbeitrag von Olga Martynova

Pauschal gesprochen empfindet man Weißrussland im Westen als eine zweite Auflage der Ukraine: Noch ein Land zwischen "Westen" und "Osten", das rebelliert. Die Bilder aus Weißrussland sind so überraschend, dass man nur mit Verzögerung begreift, was daran so ungewöhnlich ist. Allein: Das ist keine "Revolution". Die Protestierenden wollen zunächst einmal keine gravierenden Änderungen des ökonomischen Systems oder der Orientierung ihres Landes in der politischen Konstellation auf der Weltbühne. Sie wollten zuerst nur ihr Wahlrecht verteidigen, und jetzt wollen sie, dass der Staat gegen die gewaltfreien Bürger keine Gewalt anwendet.

Diese lebendige Demokratie wird paradoxerweise massiv von einem Machtapparat bedroht, der im Vergleich kläglich und schwach aussieht. Nicht, dass Lukaschenko sich überschätzt hätte. Eher hat er seine Gegner unterschätzt. Vielleicht hat er überhaupt nur aus tiefer Verachtung den Frauen gegenüber zugelassen, dass Swetlana Tichanowskaja anstelle ihres verhafteten Mannes bei den Wahlen kandidierte, und konnte sich in seinem schlimmsten Albtraum nicht vorstellen, dass sie ihm eine starke Gegnerin sein könnte.

Die Sympathie, ja Begeisterung für Weißrussland ist in Russland groß. Auch die Empörung über die Gewalt gegen die Protestierenden und die Angst um sie. Wenn ein großer Teil der Bevölkerung Russlands über die Rückkehr der Krim (hier ist unwichtig, ob zu Recht oder nicht) durchaus als Korrektur eines geschichtlichen Fehlers denken konnte (und viele Intellektuelle und Künstler schockierten andere Intellektuelle und Künstler mit ihren Behauptungen, dass die Krim zu Russland gehöre), dann würde das bei Weißrussland auf keinen Fall möglich sein. Eine Einmischung Russlands auf Seiten Lukaschenkos wäre eine absolut unpopuläre Maßnahme und ein fataler Fehltritt mit gefährlichen Folgen, nicht nur für Russland.

Als man eine Woche nach Beginn der Proteste von Militärfahrzeugen, die sich in Russland in Richtung der weißrussischen Grenze bewegten, berichtete, was sich später als Fehlalarm erwies, habe ich verstanden, was Natalja Gorbanewskaja fühlte, als sie 1968 auf dem Roten Platz gegen den Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei protestierte: Mir war, als säße ich am Steuer jener Fahrzeuge. Nicht nur mir, Bekannte in Russland haben mir von ähnlichen Gedanken erzählt. Gorbanewskaja war keine Kämpferin. Sie war ein leiser, sogar etwas schüchterner Mensch und eine wunderbare Dichterin, die ihren Protest mit einem Zwangsaufenthalt in der Psychiatrie bezahlte und später nach Frankreich emigrierte.

Die russische Regierung scheint abzuwarten. Die weißrussische "Opposition" (aber das ist tatsächlich die Mehrheit, fast die ganze Bevölkerung) bleibt in ihrer Weigerung, auf Provokationen mit gewalttätigen Ausschreitungen zu antworten, standhaft. Die Menschen benehmen sich rücksichtsvoll, räumen nach den Demonstrationen auf und hinterlassen keinen Müll. Sie ziehen sogar ihre Schuhe aus, bevor sie auf eine Gartenbank steigen, um ihre Plakate hochzuheben.

Sie helfen sich gegenseitig, verteilen Essen und binden Erste-Hilfe-Kästen für die von Sicherheitskräften Verwundeten an Bäume. Solche Bilder sorgen für Bewunderung. Lukaschenko hingegen posiert vor der Kamera mit einem Maschinengewehr und erntet Spott und immer stärker werdende Verachtung. Er scheint ein politischer Selbstmörder zu sein. Aber noch ist nichts entschieden. Man schaut in Richtung Weißrussland, als stünde ein Glas auf dem Rande eines Tisches und könne jede Sekunde umkippen und zerbrechen. Doch Menschen sind kein Glas. In jedem Fall wird die Welt nach diesen Wochen in Weißrussland anders sein.

Ist die weltweite Krise der Politik nicht zu einem Teil damit erklärbar, dass der klassische Politiker zu den neuen Umständen nicht mehr passt? "Und nun, verehrte Anwesende, wollen wir uns nach zehn Jahren über diesen Punkt einmal wieder sprechen", sagte Max Weber am Ende seines Vortrags "Politik als Beruf". Es sind nun mehr als 100 Jahre vergangen.

Um zu zeigen, wie breit der Begriff "Politik" ist, listet Weber auf, wovon wir reden, wenn wir über Politik reden, bis er ihn ad absurdum führt: "ja schließlich von der Politik einer klugen Frau, die ihren Mann zu lenken trachtet". Doch an den weißrussischen Frauen an der Spitze des aktuellen Geschehens ist nicht interessant, dass sie Frauen sind. Die Frau in der Politik ist längst keine Neuigkeit mehr. Nur waren eiserne Ladys häufig nicht von den Männern unterscheidbar. Sie wiesen und weisen politische Tugenden und Macken auf, die bei Männern genauso sind. Verblüffend anders sind die Frauen in Weißrussland.

Als ich am Anfang der Geschehnisse sagte, mir gefalle, dass keine charismatische Figur die Protestierenden anführt, dachte man, das wäre ein böses Bonmot. Aber ich meinte, die charismatischen Politiker alten Schlages würden heute oft versagen. Doch, Maria Kolesnikowa, die, nachdem Swetlana Tichanowskaja nach Litauen ausgereist war, zu Gesicht und treibender Kraft der Proteste geworden ist, ist charismatisch. Aber das ist das Charisma einer Künstlerin: Sie ist Flötistin und ist aus Deutschland zurückgekehrt, wo sie barocke Musik studierte. Sie positioniert sich nicht als Politikerin, sondern als Mensch, der nicht anders handeln kann. Und auch sie bleibt wie die gesamte neue Bewegung in Weißrussland: unpathetisch. Ruhig. Ausgewogen. Undemagogisch. Das ist die milde Kraft der menschlichen Würde. Die einmalige gewaltlose Haltung der weißrussischen Proteste ist würdig.

Dabei ist eine solche Haltung eben das, was Weber "Eine Ethik der Würdelosigkeit" nannte. In "Wissenschaft als Beruf" sprach er von "Manneswürde, die etwas ganz anderes predigt". Was anderes? "Für die Politik ist das entscheidende Mittel: die Gewaltsamkeit", heißt es wieder in "Politik als Beruf". Sich "mit der Politik, das heißt: mit Macht und Gewaltsamkeit als Mitteln" einzulassen, hieße, "mit diabolischen Mächten einen Pakt" zu schließen. Das wäre also die "Manneswürde". Womöglich ist sie doch überholt? Womöglich ist Webers "Gesinnungsethik", der er Schwäche nachsagt, die verantwortungsvollste, und die "Verantwortungsethik", die ihm zufolge Gewalt voraussetzt und von einem Politiker anzuwenden ist, unverantwortlich?

Niemand weiß, wie das jetzt in Weißrussland ausgeht. Aber vielleicht ist das der Anfang einer neuen politischen Kultur, die Andeutung einer neuen Praxis. Das ist eine sehr schwache Hoffnung und klingt utopisch. Aber das ist wohl notwendig. Denn leider ist es nur eine Frage der Zeit, bis jeder kleine Tyrann nicht nur ein Maschinengewehr, sondern eine Atombombe zur Selbstpräsentation haben wird.

Die Schriftstellerin Olga Martynova wuchs in Leningrad auf und lebt heute in Frankfurt am Main. Zuletzt erschien von ihr der Essayband "Über die Dummheit der Stunde" im S. Fischer Verlag.

© SZ vom 03.09.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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