Barrikadenkämpfer und Architekturprofessor:"Papa ist zu schrecklich"

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Gottfried Semper (1803-1879), porträtiert von Franz von Lenbach. (Foto: N/A)

Er war Krawallschachtel und Kunstgenie, getrieben vom "Dämon der Unzufriedenheit". Sonja Hildebrand beschreibt die schwierige Person und das unruhige Leben des Stararchitekten Gottfried Semper.

Von Michael Mönninger

Der Architekturprofessor war ein Radikaler im öffentlichen Dienst. Er kämpfte als Scharfschütze auf den Barrikaden des Mai-Aufstands 1849 in Dresden und floh vor dem Haftbefehl 14 Jahre lang ins politische Exil nach Paris, London und Zürich. Auf der Weltausstellung in London 1851 erlebte er den Urknall der Globalisierung und entwickelte inmitten der Warenflut im Kristallpalast eine neue Ordnung der Dinge, mit der er Wissenschaft, Industrie und Kunst völlig neu sortieren wollte. Er verfasste die weitreichendste Theorie des 19. Jahrhunderts über den Ursprung und Formenwandel von Gewerbe, Technik, Kunst und Architektur. Und zeitlebens schwärmte der entschiedene Republikaner vom einfachen Volk und seinem urtümlichen Handwerk, doch seine Riesenbauten entwarf er am liebsten für Autokraten.

Gegenüber dem umfassend erforschten Werk des Hamburger Architekten Gottfried Semper (1803 bis 1879) stand sein Leben bislang immer im Schatten. Nun verleiht die Schweizer Architekturhistorikerin Sonja Hildebrand dem Architekturhelden und Wegbereiter der frühmodernen Materialkunde und Produktionsästhetik erstmals Gesicht und Stimme. Einen Hinweis auf die schwierige Person gab zuvor schon Werner Oechslin, als er vom "schwierigen, verschlossenen, vergrämten, unverstandenen Semper" sprach. Das war im Vergleich zu Sonja Hildebrands Biografie noch geprahlt: Sie schildert den Mann bei allem Respekt als übellaunige, misstrauische, beleidigte Krawallschachtel, dessen unbestreitbare Kunstgröße daneben umso rätselhafter erstrahlt.

Semper stammte aus einer Hamburger Kaufmannsfamilie und studierte Mathematik und Geschichte in Göttingen, wo er der örtlichen Polizei schon früh als Randalierer auffiel. Sein Architekturstudium an der Münchener Kunstakademie brach er ab und ging nach Paris, wo er im Atelier des Staatsbauinspektors Franz Christian Gau einen respektierten Lehrer fand. Auf seiner "grand tour" zu den Grabungen in Italien und Griechenland kletterte Semper furchtlos an der römischen Trajanssäule und dem Theseus-Tempel in Athen herum und geriet angesichts der gefundenen Farbreste in Verzückung: "Du kannst Dir keinen Begriff von der Pracht und dem Reichtum der Alten machen", schrieb er 1832 nach Hause. In Pompeji gewann er vollends die Überzeugung, dass es eine antike Kunst ohne Farbe nicht gab. Damit stieg er zum Wortführer im damaligen "Polychromie-Streit" auf, der die klassizistisch idealisierte, zeitlose, weiße Antike aus dem Götterhimmel herunterholte, in historische Kontexte stellte und als Volkskunst interpretierbar machte.

"Die Berge sind mir langweilig und wegen trüber Luft nie zu sehen."

Doch über seine Gemütsverfassung schrieb Semper schon damals, er werde ständig von seinem "Dämon der Unzufriedenheit" getrieben. Das befähigte ihn immerhin, schon als junger Architekturprofessor in Dresden 1834 über die Stränge zu schlagen. Dazu schildert der Band die schöne Anekdote, dass der Architekt den Standort eines Denkmals für Friedrich August I. vorschlagen sollte, aber stattdessen den Gesamtplan für ein Riesenforum zwischen Zwinger und Elbe vorlegte. Übrig blieben davon immerhin seine ersten Bauaufträge für Hoftheater und Gemäldegalerie. Mit seinem Jugendfreund Richard Wagner, dem sächsischen Hofkapellmeister, stritt er über die revolutionäre Verbesserung der Gesellschaft durch Kunst, wobei Wagner schon damals "Sempers wunderliche und krankhafte Neigung zum absoluten Widerspruch" auffiel.

Beide Junggenies mussten nach dem Revolutionsversuch 1849 als steckbrieflich gesuchte Aufrührer fliehen. Im Pariser Exil, so die Autorin, verfiel der unterbeschäftigte Semper in Depressionen und wäre fast nach New York ausgewandert, hätte ihn nicht ein überraschendes Arbeitsangebot nach London gelockt. Hier begegnete er den Pionieren der ersten Weltausstellung Henry Cole und Joseph Paxton, in deren Auftrag er die Länderabteilungen für Kanada, Ägypten, die Türkei, Schweden, Norwegen und Dänemark im Kristallpalast einrichtete. Leider lässt die Autorin die Frage unbeantwortet, warum Semper in Paxtons Riesenbau die Zukunftstechnik der Eisenkonstruktion nicht erkannte. Er sah damals nur ein "glasgedecktes Vacuum", sprach dem Baustoff Eisen jede raumbildende Wirkung ab und wollte ihn nur für Schmuck oder Waffen akzeptieren.

Das ist eine der grundlegenden Ungereimtheiten in Sempers Leben, die die Autorin anhand vieler neuer Quellen beschreibt, aber nicht aufklären kann: dass Semper bei allem Pathos der Anschauung und der Lust an der historischen Tiefenanalyse oft geringschätzig oder gar blind gegenüber seiner nächsten Umgebung blieb. Seine große intellektuelle Spannkraft, empirische Beobachtungen systematisierend zu vereinfachen, schien mit wachsendem Produktionsdruck auf Kosten der sinnlichen Nahwahrnehmung zu gehen.

Als Richard Wagner ihn 1855 nach Zürich auf die neue Architekturprofessur im Polytechnikum vermittelte, fing Semper schon nach wenigen Monaten mit Dauerklagen an: Er mokierte sich über seinen "verhassten Beruf als Lehrer", den "dummen Luxus" in Zürich, seine "kalte und ungemütliche Wohnung" und sogar die Landschaft: "Die Berge sind mir langweilig und wegen trüber Luft nie zu sehen."

"Man ist doch niemals glücklich, sondern tritt von einer Sorge in die nächste."

Zudem schmähte er die Schweizer Demokratie als "Vielregiererei, die dem Wichte dasselbe Gewicht beilegt wie dem Meister" und empfand Mitbestimmung als "Chikane": "Der schlimmste despotische Fürst und der fanatischste Papst thut mehr für die Kunst als ein Freistaat". Architekturwettbewerbe nannte er "Firlefanz" und "Unsinn" und war erst zufrieden, als er den Direktauftrag für das Zürcher Polytechnikum erhielt. Grausam auch, wie er mit seinem treuen Verleger Eduard Vieweg aus Braunschweig umging. Nach mehr als zehn Jahren Vorschüssen ohne Gegenleistung bat ihn Semper um Entlassung aus dem Vertrag, weil er plötzlich einen anderen Verleger hatte. Diese Illoyalitäten mögen auch erklären, warum von Sempers Hauptwerk "Der Stil" nur die beiden ersten Bände über das Kunsthandwerk erschienen, aber nicht der dritte über Architektur.

An schlechten Tagen litt auch seine Familie. "Papa ist zu schrecklich," klagte seine Frau Bertha. "Er spricht kein Wort mit uns und kommt den ganzen Tag nicht zum Vorschein." Derweil schwelgte der Architekt in Selbstmitleid, er werde in Zürich "glanzlos, im Trüben und unbeachtet verlöschen". Als aber der österreichische Kaiser 1869 Semper für die neuen Hofmuseen nach Wien holte, wollte dieser doch lieber in Zürich bleiben: "Man ist doch niemals glücklich, sondern tritt von einer Sorge in die nächste." Semper sah sich als "Wüstenwanderer, der keine Ruhe findet". Den Gipfel seines Pessimismus erreichte er, als er mit dem Wiener Kontaktarchitekten Hasenauer in Streit über Urheberschaft und Ausführung des Kaiserforums mitsamt Burgtheater geriet. "Ich verfluche den Augenblick, der mich nach Wien führte," schrieb er 1875: "Hasenauer ist mein Verderben." Obwohl die Bauarbeiten längst liefen und sein Ruhm wuchs, klagte Semper, ihm sei "alles Selbstvertrauen abhanden gekommen": "Ich sehne mich fort von hier und weiß nur nicht wohin."

Ob Semper unter dem Widerspruch litt, als ehemaliger Republikaner auf dem Gipfel seines Schaffens neoabsolutistische Monumente zu entwerfen, oder ob das lange Exil und die Trennung von seiner Familie ihn aus dem seelischen Gleichgewicht brachten? Sonja Hildebrand eröffnet viele Deutungen und liefert in ihrer Studie reiches Material für eine personalisierte Kulturgeschichtsschreibung, die man gerne auch über andere Kunstgötter des 19. Jahrhunderts lesen würde.

Sonja Hildebrand: Gottfried Semper. Architekt und Revolutionär. wbg Theiss, Darmstadt 2020. 256 Seiten, 32 Euro.

© SZ vom 24.09.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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