Barock-Kunst:Ein schier endloser Himmel

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Der Venezianer Giovanni Battista Tiepolo malte vor allem Deckenbilder. Doch der Staatsgalerie Stuttgart gelingt eine überzeugende Ausstellung, weil sie Gemälde und Entwürfe hervorragend zusammen bringt.

Von Gottfried Knapp

Wie kann ein Museum einen Maler präsentieren, dessen bedeutendste Werke an weit entfernt liegenden Orten fest installiert sind - als Wand- und Deckenbilder in Palästen oder als Altartafeln in Kirchen? Die Staatsgalerie Stuttgart führt am Beispiel des Venezianers Giovanni Battista Tiepolo (1696 - 1770) exemplarisch vor, wie man mit einer beschränkten Auswahl an Gemälden und einer stattlichen Auswahl korrespondierender Zeichnungen und Grafiken alle Entwicklungsstufen im Lebenswerk eines Jahrhundertkünstlers repräsentativ vorführen kann. Ja, es ist den Organisatoren gelungen, von den drei bedeutendsten Monumentalwerken Tiepolos - den Deckenmalereien in der Würzburger Residenz, in der Villa Pisani in Stra und im Thronsaal des Palacio Real in Madrid - die in Ölfarben prunkenden Vorentwürfe zu präsentieren und in der Ausstellung mit den dazugehörenden Detailzeichnungen zu kombinieren. Der Besucher kann also in aller Ruhe die dynamischen Bewegungen studieren, mit denen Tiepolo an Saaldecken, aber auch auf den beengten Flächen einzelner Bilder Spannung erzeugt hat. Wer aber zudem den Katalog zu Rate zieht und die zahlreichen Deckenbildentwürfe mit den Fotografien der erhaltenen Fresken vergleicht, der kann die farbdramaturgischen Veränderungen bestaunen, die Tiepolo bei der Übertragung auf die Decke und beim Wechsel von der Öl- zur Freskomalerei vorgenommen hat.

Ausgerechnet der Jüngste löste sich frech von den lokalen Vorbildern

Die wohl grandioseste Weltvision des 18. Jahrhunderts, das in den blauen Himmel hinauf sich öffnende schier endlose Deckenbild über dem Treppenhaus der Würzburger Residenz, erglüht in der Staatsgalerie als Riesen-Dia fast zum Greifen nah an der Decke eines Museumsraums. Unter dieser verkleinerten Nachbildung sind an den Wänden die Zeichnungen aufgehängt, in denen Tiepolo mit wenigen präzise ausholenden Strichen die überrumpelnd vitale Gestik der an der Decke agierenden Figuren noch einmal eingefangen hat - als Erinnerungsstücke und Muster für die eigene Werkstatt. Wie sich Giovanni Battista Tiepolo um 1725 als Jüngster der um 1700 in Venedig herangewachsenen Geniegeneration frech von den lokalen Vorbildern gelöst hat, lässt sich an dem pikant vieldeutigen Gemälde "Apelles malt das Bildnis der Campaspe" zeigen. Auf diesem Bild hat sich Alexander der Große mit seiner Geliebten Campaspe, die gemalt werden soll, in der linken Bildhälfte niedergelassen. Von ihrem flachen Podium herunter starren die beiden gierig nach rechts, wo der servil zur Herrschaft zurückblickende Maler Apelles auf dem begonnenen lebensgroßen Porträt gerade die Brustwarzen der Geliebten mit dem spitzen Pinsel berührt. Man könnte über das Spannungsverhältnis zwischen Auftraggeber, Modell und Maler, das Tiepolo in diesem Gemälde satirisch zugespitzt hat, eine ganze Abhandlung schreiben. Für den Ausstellungsbesucher aber sind die gestischen und koloristischen Widersprüche zwischen den beiden Bildhälften am interessantesten: Während die Figuren rechts im Maleratelier in einem farblich diffusen Helldunkel vor sich hindämmern, wie es die venezianischen Malerkollegen damals geschätzt haben, schrauben sich die Figuren in der anderen Bildhälfte so in das prall einfallende Licht, dass ihre Leiber fast plastisch greifbar werden und die wild umherwogenden Gewänder in den Grundfarben Rot, Gelb und Blau triumphal aufleuchten. Der naturblaue Himmel über diesen Figuren aber deutet schon etwas von der atmosphärischen Weite und von der räumlichen Tiefe an, mit denen Tiepolo sie bald umgeben wird.

Am Deckenbild des Kaisersaals der Würzburger Residenz lässt sich die Öffnung, die Tiepolo in Richtung Himmel vorgenommen hat, am schönsten vorführen. Im nur 106 Zentimeter breiten Entwurfsbild stürmen die vier von unten gesehenen Pferde und der Wagen Apolls auf den Wolken so mächtig und so urgewaltig in die Mitte der prall mit Leben gefüllten Szenerie, dass sie aus dem engen Oval heraus auf den Betrachter zuzustürzen scheinen. Ja, auch die Figuren, die das wilde Geschehen beobachten, wölben sich so plastisch dem Betrachter entgegen und über den Bildrand hinaus, dass das Modell des geplanten Freskos wie eine einzige dynamisch-plastische Ausstülpung wirkt.

Im 20 Meter breiten, also zwanzigmal größeren Fresko ist die Wirkung der Figurengruppen genau umgekehrt. Nichts stürzt nun mehr aus dem elegant gerahmten Oval herab. Alle Figuren sind in eine kosmische Ferne entrückt. Ja, der Blick des Besuchers wird soghaft in die Himmelshöhe des Bildes hinaufgerissen. Die im Entwurf noch heftig ineinanderbrodelnden gelben Wolkenmassen haben sich in der Weite des Freskos entzerrt, ihr helles Rosa gibt eine entspannte Antwort auf das strahlende Blau des Himmels, das hier zum göttlichen Firmament geweitet ist. Die vier Pferde Apolls galoppieren nun nicht mehr bedrohlich nach vorn, sie werden auf den hingehauchten Wolken von einem kosmischen Sturm in die Höhe geweht. Und die seitlich übereinander gestaffelten Figurengruppen sitzen so sicher auf dem Bildrand oder auf den Wolkenbänken, dass auch sie den Blick perspektivisch in die Höhe hinaufziehen. Das über die riesige Fläche verteilte Geschehen lässt also vergessen, dass es von einem Gerüst aus mühevoll auf die Decke gepinselt worden ist, es wirkt so, als sei es vom Maler aus großer Entfernung lässig ins Gewölbe geblasen worden.

Mit der Weite und Tiefe des Raums, die er nicht nur am Himmel, sondern zunehmend auch auf der Erde entdeckte, hat Tiepolo als Maler größte Wirkungen erzielt. Die Landschaften bekamen im Alterswerk eine immer größere Bedeutung, ja, wenn er um 1760 nicht gerade einen thematisch definierten Auftrag erfüllen musste, suchte er sich unter den gängigen Stoffen gerne jene aus, die zu Landschaftsfantasien einluden. So hat er die in der Bibel nur beiläufig erwähnte "Flucht nach Ägypten" mehrfach zum Anlass für realistisch durchdachte, bis heute verblüffend glaubwürdige Naturschilderungen genommen.

Mit seinen Landschaften hat Tiepolo den Barockstil weit hinter sich gelassen

In der herrlich spontan gemalten Stuttgarter Version des Sujets sind Maria und Joseph am Fuß eines Baumes erschöpft zusammengesunken und zu Schemen geschrumpft, denen nur noch der dahinter aufrecht stehende Packesel zur Identifikation mit der biblischen Geschichte verhilft. Die ganze emotionale Wirkung des Bildes geht von der Landschaft aus, vom schräg nach rechts gekippten Nadelbaum und dem dahinter nach links überhängenden Felsen, der den Weg versperrt, vom dunklen Gewässer, das man nur mit einem Boot überqueren könnte, und von den wüstenhaften Bergen dahinter. Lebendiger und überzeugender hätte auch der Engländer John Constable ein halbes Jahrhundert später ein Stück Landschaft nicht schildern können. Mit solchen Visionen hat Tiepolo den Barockstil, dem er mit seinen farbig glühenden Kompositionen zu einer letzten Blüte verholfen hat, weit hinter sich gelassen, ja, er hat die naturferne Epoche des Klassizismus, die sich zeitlich anschloss, glatt übersprungen.

Die hier angedeutete Entwicklung in Richtung Naturalismus lässt sich auch im Werk von Tiepolos Sohn und Mitarbeiter Giovanni Domenico Tiepolo nachvollziehen. Domenico hat schon in Würzburg in einer 28-teiligen Radierungsfolge die "Flucht nach Ägypten" fantasievoll ausgemalt, ja zu einem gezeichneten Reiseroman erweitert. Stuttgart besitzt nicht nur diesen einzigartigen Zyklus, sondern darüber hinaus auch einen der bedeutendsten Bestände an Originalzeichnungen des Vaters. Vor allem in dessen Zeichnungen auf blauem Papier ereignet sich Elementares. Auf dem blauen Grund bekommen die rotbraunen Linien des Rötels und die weißen Schraffuren der Kreide eine Präsenz, die den angedeuteten Figuren zu prallen Körpern verhilft. Nie sind Zeichnungen der Malerei so nahe gekommen wie auf diesen Blättern Tiepolos.

Tiepolo. Der beste Maler Venedigs. Staatsgalerie Stuttgart. Bis 2. Februar. Katalog 29,90 Euro.

© SZ vom 26.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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