Autobiografische Prosa:Zeichnungen, von Geisterhand

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Stefan Schütz berichtet vom Zusammenleben mit seiner demenzkranken Frau. Es ist eine Liebesgeschichte, die vom Entgleiten und Entschwinden der Geliebten erzählt.

Von Jörg Magenau

Dichter wissen vielleicht aus eigener Erfahrung, dass es eine Art des Sprechens gibt, die nicht vom Ich her gesteuert wird. Die Sprache ist ja immer schon da, lange bevor ein bestimmtes Subjekt zu sprechen beginnt, und sie bleibt übrig, wenn es erlischt. Von diesem Vorgang erzählt Stefan Schütz in dem kleinen, aufwühlenden - ja, wie soll man es nennen - autobiografisch-poetischen Stenogramm?

Was er durchlebt, möchte niemand ertragen müssen. Seine Frau, die Theaterregisseurin Uta Birnbaum, mit der er seit Jahrzehnten zusammenlebt und arbeitet, ist an Demenz erkrankt und in ein Pflegeheim gekommen. Weil er glaubte, sie dort nicht allein lassen zu können und weil beide nicht ohne einander sein wollten und konnten, zog auch er in das Heim.

"Unser Leben" berichtet vom prekären Zusammensein mit einer Frau, die zwischen Zukunftslosigkeit und ausgelöschter Vergangenheit verloren geht. Sie weiß nicht so recht, wer der Mann an ihrer Seite ist. Aber sie weiß aus tiefstem Grund, dass er für sie da ist, und sie spricht ihn in ihrer namenlosen Not immer wieder so an: "Hilfe, hilf mir doch!", als gäbe es ein Zentrum in ihr, dem noch zu helfen wäre. Manchmal sagt sie auch: "Ich hab dich ganz doll lieb." Aber was bedeutet das, wenn sie nicht weiß, wer sie einmal gewesen ist? Dabei ist es doch gerade die Vergangenheit des gemeinsam durchlebten Lebens, die den Erzähler an sie bindet. Wenn er sie küsst, während ihr der Speichel aus den Mundwinkeln tropft, dann ist dieser Zärtlichkeitsversuch eine Erinnerung, die bei ihr als rätselhafter Augenblicksmoment ankommt.

Sie weiß nicht so recht, wer der Mann an ihrer Seite ist. Aber, dass er für sie da ist

Schütz, 1944 in Memel geboren, ist zu DDR-Zeiten als Dramatiker bekannt gewesen, hat unter anderem am Berliner Ensemble und mit Heiner Müller gearbeitet, bis er zusammen mit seiner Frau 1980 in die Bundesrepublik übersiedelte. Mit "Medusa" legte er dann einen gewichtigen Roman vor, der ihm 1985 den Alfred-Döblin-Preis einbrachte. Seither wurde es still und stiller um ihn, obwohl er zahlreiche große Romane geschrieben hat. Sein Schaffen wurde kaum noch registriert, als sei er aus der Zeit gefallen, und so ist der existenzielle Randbereich der Demenz, den er nun als Begleiter bewohnt, der Ort, von dem aus er seine Sprache sucht und wiederfindet.

Dem Entgleiten und Verschwinden der geliebten Lebenspartnerin setzt er seinen Sprachformungswillen entgegen, einen Stil, der offen bleibt für das Gespräch mit ihr und der sie in ihrem prekären Bewusstsein in sich aufnehmen kann. Das ist das Besondere an "Unser Leben". Es ist eben kein bloßer Bericht über eine Demenz-Erkrankung - davon gäbe es ja schon genug -, sondern ein Umschreiben der Person, von der nur noch die pure Gegenwart und die Worte, die daraus hervorgehen, übrig geblieben ist.

Trotzdem aber ist das Gespräch möglich; die Sätze der Frau finden Eingang in den Text, ihr Zustand wird zur Metapher der flüchtigen menschlichen Existenz. So behält sie Kontur und auch eine Art von Würde selbst dann, wenn sie im Delirium die Nächte durchtobt und den, der ihr helfen will, mit sich in den Abgrund reißt, so dass er schließlich doch vor ihr fliehen muss, um sich selber zu retten. Sie bleibt die absolute Herausforderung, die Grenze, die radikale Frage nach dem Sinn des Seins, der gerade dann, wenn alles erlischt, behauptet werden muss. Schütz greift tief aus in die Zeiten, weit voraus und zurück. Der große, brave Hund, den die beiden im Pflegeheim nicht behalten dürfen, wird zum mythischen Wolf, der im großen Kreislauf der Evolution in ein paar Hunderttausend Jahren wieder Flossen haben wird, um ins Meer zurückzukehren. Erste Anzeichen sind schon zu sehen, wo Wölfe in Kanada in den Flüssen Lachse jagen.

Das "Kerngehäuse unseres Unbewussten" - und das ist womöglich der innere Rückzugsort der dementen Frau - ist so etwas wie eine Steinzeithöhle mit ihren Malereien, wo "die Zeichnungen sich wie von Geisterhand von Gewölb und Wand" lösen. Das Verschwinden der konkreten historischen Person vollzieht sich als Rückkehr in diesen archaischen Urgrund.

Dieser rein sprachlichen, bildlichen Ebene des Erlebens können die Ungeduld, das Bettnässen, das Schreien und Toben, der wenig ersprießliche Heimalltag nichts anhaben. Schütz beschreibt den körperlichen Verfall in aller Drastik. Die Perspektive aber ist es, die Gemeinsamkeit und die Liebe dennoch zu behaupten: "Dem, was unser Leben war, wurde und sein wird, ist nichts hinzuzufügen, als dass es ein Fluss ohne Ufer ist, der auf dem Weg in die ewige Nacht des Universums sich immerwährend selbst verschlingt und zugleich aus der Tiefe an die Oberfläche drängt."

Dass die beiden Selbstvergessenden dorthin unterwegs sind, haben sie vielleicht auch schon vergessen, wenn die Pflegerin mit den Gummihandschuhen kommt und das Katheder zurechtrückt. Und doch ist dieses Wissen da, als Sprachstrom, der zu Text geworden ist. "Unser Leben" - eine große, traurige, starke Liebesgeschichte, in der die Liebe wie die Sprache selbst ganz rein, weil subjektlos zum Vorschein kommt.

Stefan Schütz: Unser Leben. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2016. 126 Seiten, 19,90 Euro. E-Book 16,99 Euro.

© SZ vom 13.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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