Autobiografie:Giftige Schlange

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Die chinesische Autorin Ying Chang Compestine erzählt, wie die Kulturrevolution ihre Familie zerstörte und ihr Vater, ein angesehener Arzt im Krankenhaus, verschleppt wurde.

Von Verena Hoenig

Über die chinesische Kulturrevolution (1966 - 1976) liegt neben dem Bilderbuch für Kinder "An Großvaters Hand" (Chen Jianghong) jetzt "Revolution ist keine Dinnerparty" vor, ein eindrückliches Zeitzeugnis jener grausamen Epoche, das sich an Jugendliche richtet.

Ling ist ein aufgewecktes Mädchen, das seinen Vater vergöttert. Die Neunjährige darf ihm Zöpfchen flechten und lernt von ihm Englisch und Tanzen. Sogar Verstecken spielt er noch mit ihr. Wenn die Mutter mal wieder nörgelt, Ling würde zu laut lachen, zu schnell essen oder hätte zu große Füße, verteidigt er die Tochter. Die nächsten vier Jahre sollen die dunkelsten ihres Lebens werden.

Das Unheil erscheint in Gestalt von Genosse Li. Er zieht in ihre Wohnung ein, die auf dem Gelände des Krankenhauses liegt, in dem die Eltern arbeiten. Für den "Politbeauftragten" muss der Vater sein Arbeitszimmer räumen. Noch sieht das Mädchen in Li einen "lustigen Affen", der Origami für es faltet und Zaubertricks auf Lager hat. Doch bald schon verwandelt er sich in eine "giftige Schlange", die sämtliche Familien der Nachbarschaft observiert und außerdem anordnet, Heizung und Strom abzustellen. Derartiges sei in Maos Augen "Verschwendung" und damit "ein großes Verbrechen". Badewannen, Kühlschränke, Nähmaschinen gelten als "bourgeoise Gegenstände" und werden konfisziert. Toilettenpapier, Seife, Zahnpasta und Lebensmittel sind rationiert. Nun friert man nicht nur für die Revolution, sondern hungert dazu noch. Briefe kommen geöffnet an, angeblich konterrevolutionäre Nachbarn verschwinden. Selbst Kinder werden in Umerziehungslager geschickt, wenn sie etwas Kritisches über die Revolution äußern oder über Mao, dem zu huldigen ist wie einem Gott. Ohne das kleine rote Buch, die "Mao-Bibel", angetroffen zu werden, zieht ebenfalls die Verhaftung nach sich.

Magisches Zeichenbrett für Kinder, 1992. (Foto: N/A)

In der Schule erleidet Ling Schikanen und körperliche Angriffe, weil ihre Eltern Akademiker sind und der Vater im Westen studiert hat. Ihre Freunde wenden sich von ihr ab, um nicht als Sympathisanten der Bourgeoisie zu gelten. Die geliebten Bücher müssen verbrannt werden, genauso wie die Fotos der Großeltern.

Das Unverständnis des Kindes wächst stetig, nirgendwo kann es auch nur im Entferntesten das propagierte "neue paradiesische China" erkennen. Mao würde treuer für Ling sorgen als ihre Eltern? Lachhaft! Sie hat Albträume und Angst frisst an ihr wie "Ratten an einem Sack Reis."

Als sogenannter Klassenfeind darf Lings Vater Dr. Chang nicht mehr als Chirurg arbeiten, sondern wird zum Hausmeister des Krankenhauses degradiert. Seine Tätigkeit haben sogenannte Barfußärzte übernommen, junge Bauern mit einer gerade mal achtwöchigen medizinischen Grundausbildung. Als der Vater seiner Tochter den Begriff Freiheit definiert - "wenn du lesen kannst, was du willst, und sagen kannst, was du denkst" - wird ihr die desolate Lage endgültig klar. Da niemand die Stadt verlassen darf, ist die Flucht nach Amerika nicht mehr möglich. An einem Weihnachtsabend demolieren Rotgardisten die Wohnung und nehmen den Vater mit.

Ying Chang Compestine: Revolution ist keine Dinnerparty. Aus dem Englischen von Nicola T. Stuart. Jacoby & Stuart Verlag, Berlin 2018. 256 Seiten, 15 Euro. (Foto: N/A)

Der Leser begleitet die Ich-Erzählerin bis zum Jahr 1976. Ling ist dreizehn zur Kämpferin mutiert, die sich mit einem Gürtel verteidigt und die Essensbeschaffung übernommen hat, weil ihre Mutter es nicht mehr kann. Um die schlimme Zeit psychisch durchzustehen, klammert Ling sich an einen Traum: Eines schönen Tages möchte sie in einem roten Kleid Eiscreme essen und mit ihrem Vater die Golden Gate Bridge besuchen.

Ying Chang Compestines Roman ist weitgehend autobiografisch. Im Anhang informiert die seit Langem in Amerika lebende Autorin über den historischen Hintergrund und macht aus ihrem Stolz über den Wirtschaftserfolg des heutigen Chinas keinen Hehl. Man hätte sich in diesem Zusammenhang jedoch ein paar kritische Sätze gewünscht. Ist der autoritäre Staat unter Xi Jinping, dem mächtigsten Staats- und Parteichef seit Mao, doch gerade dabei, die totale Überwachung des Volkes aufzubauen und damit die Diktatur im digitalen Zeitalter neu zu erfinden. (ab 13 Jahre)

© SZ vom 09.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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