Autobiografie:Aug in Aug mit Pynchon

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Einen "Widerschein der Zeitgeistgeschichte" will Michael Naumann in seiner Autobiografie geben. Das ist ihm gut gelungen.

Von Helmut Böttiger

Michael Naumann war schon überall. Und je mehr Zuschreibungen es für ihn gibt, desto vollständiger wird das Bild gegenwärtiger Kultur- und Medienverhältnisse. Naumann war in mehreren und höchsten Funktionen bei der Zeit, er war aber auch beim Spiegel, beim Monat und bei Cicero. Er war Politologe an der Ruhr-Universität Bochum und habilitierte sich mit einer Arbeit zum "Strukturwandel des Heroismus", vor allem aber agierte er als Chef des Rowohlt-Verlags sowie des Verlags Henry Holt in New York und schließlich als erster "Staatsminister für Kultur" in der neuen Berliner Republik unter Kanzler Gerhard Schröder.

Zurzeit ist er Gründungsdirektor der Barenboim-Said-Akademie in Berlin, und dieses "zurzeit" scheint das Attribut zu sein, das seit jeher am besten zu ihm passt. Ein wahrer Tausendsassa also (das Prädikat "Paradiesvogel", mit dem er gelegentlich behaftet worden ist, lehnt er ab. Und das stimmt schon, ein Paradiesvogel ist er nicht), einer, bei dessen Autobiografie einen gewisse Schwindelgefühle befallen können.

Gleich beim ersten Satz fällt auf, dass Naumann ein journalistisch geschulter Autor ist, dass er die coole Magazin-Schreibe fast schon mit der Muttermilch aufgesogen zu haben scheint. Er setzt Effekte und lässt dabei bekennerische oder emotionale Satzgirlanden weg, er benennt, evoziert und erzielt Wirkung durch Auslassungen. So stolz er auch seinen ersten Satz im Vorwort vorzeigt - "Autobiographien sind Er- oder Sie-Findungen" - charakteristisch für das Buch ist er nicht, Naumann gefällt sich eher nicht im Gesuchten. Viel typischer ist der Anfang des ersten Kapitels: "Es stimmt, dass ich mich an meine zweifellos schmerzhafte Geburt am 8. Dezember 1941 in der Kleinstadt Köthen selbst nicht erinnere." Da ist etwas Lockeres, Augenzwinkerndes, Gekonntes am Werk, aber auch ein sicheres Bewusstsein für das zeitgeschichtliche Umfeld und die Bedeutung der auftretenden Personen. Man kann sich darauf verlassen, dass Naumann immer den Instinkt dafür hat, rechtzeitig abzublenden, wenn er zu sehr ins Private zu driften droht. Viel lieber erzählt er treffsicher Anekdoten, und wenn einmal scheinbar zufällig der Name eines Politikers oder anderweitig Prominenten fällt, kann man sicher sein, dass eine Szene folgt, die den Protagonisten dann pointiert skizziert.

Am ausführlichsten erzählt Naumann, wenn es um die frühesten Erfahrungen geht. Die Darstellung der atemberaubend schnell wechselnden beruflichen Stationen danach geschieht weitaus summarischer. Die anhaltische Geburtsstadt Köthen, hervorgehoben durch sechs dort zugebrachte Kapellmeisterjahre Johann Sebastian Bachs, erlebte Naumann im Übergang, von provinziell-bürgerlicher Gediegenheit über die Bombennächte bis hin zur neuen, sich sozialistisch nennenden Gleichförmigkeit. Aktuelle Besuche dort bieten atmosphärische Einblicke in den Geschichtsverlauf und in unwiederbringlich Verlorenes, und die lange Zeit auch ihm selbst verborgen gebliebene Liaison seiner verwitweten Mutter mit einem emigrierten Juden, der als US-Offizier zurückkam, birgt sogar einen interessanten literarischen Stoff.

Dass der junge Naumann anscheinend ganz selbstverständlich zur Sozialdemokratie stieß und während des Studiums im leichtlebigen München in den 60er-Jahren "die Freunde vom SDS" eher distanziert und ironisch zur Kenntnis nahm, wird als Sachverhalt zwar referiert, aber nicht weiter begründet oder beleuchtet. Es wirkt wie eine merkwürdige Leerstelle. Prägend war auf jeden Fall ein früher Schüleraufenthalt 1959 in Amerika - und zu den USA hielt Naumann immer engen Kontakt, kehrte immer mal wieder dorthin zurück, lebte in den Neunzigerjahren sogar vier Jahre lang als Verleger in New York.

Erstaunlich kritisch ist seine Sicht des von den Bundesdeutschen überschätzten Henry Kissinger ("genialer Selbstdarsteller"), und zu den Höhepunkten des Buches gehört, wie raffiniert beiläufig er etwas erwähnt, worum ihn alle wesentlichen Akteure des bundesdeutschen Literaturbetriebs glühend beneiden. Er ist sich dabei der Wirkung jedes Buchstabens bewusst: "Der scheinbar mysteriöse Thomas Pynchon, von dem es außer einigen Jugendbildern keine neuere Fotografie gab, erschien im Verlag, um den gelungenen Umschlagentwurf seines Romans 'Mason & Dixon' zu begutachten." Und: "Hinter dem Schnäuzer verbarg sich ein zurückhaltender, doch keineswegs scheuer Mensch."

Ja, Naumann war oft mit dabei, wenn es um etwas ging. Aber man muss bei ihm immer auf überraschende Volten gefasst sein. Einmal, auf einem jener Berliner Empfänge und Partys, wo er sich wie ein Fisch im Wasser bewegt, sagte er über seinen Weggang von Rowohlt und seinen Abstecher nach New York zu Henry Holt - und er konnte sich sicher sein, dass seine Anspielung auf die letzte Saison des Fußballspielers Günter Netzer verstanden werden konnte: "Das ist mein Grashoppers Zürich!" Doch ehe man sich versah, war er plötzlich präsenter als jemals zuvor: als der mächtigste Kulturpolitiker des Landes, der dieses Amt auch mehr oder weniger mit erfunden hatte.

Bei alldem fällt auf, dass Naumann etwas Rastloses hat, dass er es fast nie länger irgendwo aushielt. Nach zwei, drei Jahren beendete er regelmäßig seine meist wichtige und prestigeträchtige jeweilige Tätigkeit und tauchte irgendwo anders, meist genauso wichtig und prestigeträchtig, wieder auf. Über Hintergründe, Motive, gar psychologische Aspekte erfährt man aber nie mehr als das, was er schon damals in der Öffentlichkeit darüber sagte. Immerhin: Bei Rowohlt blieb er dann doch um die zehn Jahre, und wie erfolgreich er in dieser Zeit war, zeigt seine Fähigkeiten vielleicht am besten. So mancher Feuilletonchef hatte Angst vor den Leserbriefen des Verlegers, denn Naumann war vom Fach.

Seine kurzweilige Autobiografie ist also tatsächlich, was er sich selbst davon erhofft, ein "Widerschein der Zeitgeistgeschichte". Der Übergang von diesem Buch zu einer angeregten Plauderei in der neuen Hauptstadt Berlin, zwischen Paris Bar und Salon, Kulturfunktionärswesen und Abendgesellschaften, deren Verbindung Naumann souverän verkörpert, ist fließend.

Michael Naumann : Glück gehabt. Ein Leben. Verlag Hoffmann & Campe, Hamburg 2017. 414 Seiten, 24 Euro. E-Book 19,99 Euro.

© SZ vom 20.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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